3. Antonia Riedel (Das Mädchen und der Stein)
Prosa 3. Platz
Das Mädchen und der Stein - Antonia Riedel
Es war einmal ein junges Mädchen, dessen Eltern früh gestorben waren. Es lebte in einem kleinen Dorf und die Menschen dort hatten es sehr gern. Es arbeitete jeden Tag hart auf dem Feld und nähte die Löcher in den Hosen der Jungen. Es wusch mit den anderen Mädchen die Wäsche im Fluss und molk die Kühe, damit jeden morgen frische Milch auf dem Tisch stand. Die Kinder des Dorfes mochten es sehr, denn es erzählte die fantastischsten Geschichten von wilden Monstern und schönen Rittern. Doch obwohl es so freundlich umsorgt wurde, fühlte sich das Mädchen sehr einsam. Als es eines Tages wieder die Wäsche im Fluss wusch, entdeckte es dort einen Stein. Es hatte ihn noch nie dort gesehen und auch die anderen Mädchen kannten ihn nicht. Es war der schönste Stein, den das Mädchen jemals gesehen hatte und er strahlte so eine Ruhe aus, dass es sich sofort in den Stein verliebte. So blieb es jeden Tag länger am Fluss um die Wäsche noch sauberer zu waschen, doch der Stein beachtete es nicht. Das Mädchen flocht sich Blumen ins Haar und trug stets die besten Kleider, doch der Stein würdigte sie keines Blickes. Es kam jetzt öfter zum Fluss und versuchte den Stein mit allen Mitteln auf sich aufmerksam zu machen. Es sang kunstvolle Lieder und erfüllte mit ihrer glockenhellen Stimme die ganze Luft. Die Leute des Dorfes waren wie verzaubert, doch der Stein hörte es nicht. "Sie ist verliebt", sagten die Mädchen und freuten sich. Doch das Mädchen verbrachte nun den ganzen Tag am Fluss. Die Kühe wurden nicht gemolken und die Hosen der Jungen waren voller Löcher. "Sie arbeitet nicht", sagten die Alten. Doch das Mädchen hörte sie nicht. Es kam nun auch nachts und tanzte im Mondenschein für den Stein. Doch er schlief und sah es nicht. Es buk die leckersten Kuchen und briet das zarteste Fleisch, doch der Stein nahm nichts von ihm an. Seit Wochen hatte das Mädchen nicht gegessen, nicht geschlafen und nicht gearbeitet. Es war sehr traurig und so ging es eines Abends zu dem Stein. Es erzählte ihm von seinem Leben und vom Tod ihrer Eltern. Doch der Stein hörte nicht zu. Da wurde das Mädchen wütend. Kurzerhand steckte es den Stein in seine Tasche und trug ihn heim. "Nun muss er mich lieben, denn er kann nicht weg. Ich werde ihm ein schönes Zuhause und so viel Liebe geben, wie ich kann", dachte das Mädchen glücklich. Dort angekommen legte es ihn auf die Fensterbank, damit er hinaus schauen konnte. Jeden Tag kochte und sang es für ihn. Es tanzte durch das Haus und schwang seine Röcke, doch der Stein sah aus dem Fenster und beachtete es nicht. Es drückte ihn an sich, doch der Stein blieb hart und kalt. Da stellte sich das Mädchen vor den Stein und sagte: "Stein, hör mir zu und hör gut zu." Und dann erzählte das Mädchen, wie gern es den Stein hatte und dass es mit ihm zusammen bleiben wollte, bis sie beide alt und grau wären. "Und was sagst du, Stein?", fragte das Mädchen und blickte den Stein mit großen Augen an. Doch der Stein blieb stumm. Da kamen die Alten zu dem Mädchen und sagten: "Du hast aufgehört zu schlafen. Du hast aufgehört zu essen. Und du hast aufgehört zu arbeiten. Du versuchst einem Stein zu gefallen, der dich nicht will. Gib ihn auf." Da fing das Mädchen schrecklich an zu weinen und konnte und wollte für drei Tage und Nächte nicht aufhören. Es klagte dem Stein sein ganzes Leid, doch er hörte nicht zu. Als seine Tränen versiegten, war das Herz des Mädchens gebrochen. Es war müde und wollte aufgeben. Doch da merkte es, dass der Stein durch all die Tränen weich geworden war. Es drückte ihn an sich und fühlte, wie der Stein langsam warm wurde. Da weinte das Mädchen vor Freude noch mehr. Von da an versuchte es noch inbrünstiger dem Stein zu gefallen, doch immer wenn der Stein sich abwandte, weinte es verzweifelt. Jedes Mal erweichte es den Stein. Das machte das Mädchen glücklich, doch hörte es wieder auf zu weinen, wurde der Stein wieder hart und kalt. So weinte es immer mehr. Es wollte nicht mehr aufhören vor Angst, der Stein würde für immer hart bleiben, wenn es zu lange nicht weinte. Die Menschen aus dem Dorf sahen dem Mädchen in seinem Treiben zu, schüttelten die Köpfe und wandten sich nach und nach ab. Heute ist dort kein Dorf mehr, denn die Menschen sind schon lange fort gegangen. Nur ein Haus steht noch da. Es ist ein bisschen schief, die Farbe ist verblichen und durch die schmutzigen Scheiben schimmert nur blass das Licht einer Kerze. Doch schaut man etwas genauer hin, sieht man auch heute noch eine alte Frau, die einen Stein fest umschlungen hält und bitterlich weint.