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Maria (Ria) Thiele: Mein künstlerischer Werdegang (1994)

 

Neunjährig stand ich in meinem Heimatort Düsseldorf-Oberkassel zum ersten Mal in der Auferstehungskirche hinter einem Lichterbaum und sang das Christkind. Dann – es war im Kriegsjahr 1917 – führte man anlässlich einer Gedenkfeier Martin Luthers im Gemeindehaus in Oberkassel sein Leben und Wirken mit ersten Schauspielern des Düsseldorfer Schauspielhauses auf. Ich war die Glückliche und spielte Luthers Tochter Magdalene. Vom Darsteller des Martin Luther zur Laute begleitet, sang ich eines seiner schönsten Lieder: ‚Vom Himmel hoch da komm ich hier‘. Damals prophezeite mir mein Rektor: „Dich sehe wir noch einmal als Bühnenstar!“

Es klingt unwahrscheinlich: drei Jahre später, sechszehnjährig, hatte ich eine wichtige Stufe auf dem Weg dorthin erreicht. Die große Theaterleiterin vom Rhein, Louise Dumont, wurde meine Protektorin. Mein Vorsprechen fand in einer ihrer Unterrichtsstunden auf der Probebühne des Hebbel-Saals des damaligen Düsseldorfer Schauspielhauses statt. An jenem wohl für mich bedeutsamsten Tag meines Lebens, der ersten Begegnung mit dieser verehrten hohen, geschah Folgendes:

Nur zum Vorstellen, aber nicht zur Prüfung meiner Talente in ihre Stunde gebeten, kam ich ohne Rollenunterlagen. Als mich Louise Dumont fragte: „Sind Sie schon vorbereitet?“, stieg ich sofort aufs Podium und spielte mit einem der anwesenden Schüler eine Szene der Edrita aus Grillparzers „Weh dem, der lügt!“ Ein kleiner Aus der Marianne aus Goethes „Geschwister“ folgte. Um die dritte studierte Rolle, Franziska in Lessings Minna von Barnhelm“ vorzuspielen, fand sich keine Minna, die mir hätte Partnerin sein können. Was mich nicht beirrte, beide Rollen zugleich darzustellen. Höchst amüsiert und gespannt verfolgten Louise und die Schüler das Experiment, wie ich einem Vogel gleich von einer Stelle zur anderen hüpfte und Minna und Franziska zugleich charakterisierte. Das Auditorium bog sich vor Lachen! Überrascht von dem Heiterkeitserfolg spiele ich meine Doppelrolle ruhig zu Ende.

Louise Dumonts Worte: „Mein Kind, Sie scheinen unter einem glücklichen Stern geboren zu sein!“ waren mir seither wegweisend. Die damalige Schülerschar, an der Spitze Gustav Gründgens, Paul Kempf, Hedwig Sparrer, Margarethe Köppke und viele später berühmt gewordene Künstler umringten mich. Von Stund an gehörte ich dazu.

Schon am nächsten Tag durfte ich mit den Schauspielern der Luther-Feier, Johannes Drescher und Karl Hannemann, auf einer Probe zu „Wallensteins Lager“ ein Wiedersehen feuern und als Soldatenjunge mitwirken; am 3. Tag ersetzte ich in der Abendvorstellung des „Sommernachtstraum“ eine fehlende Elfe. Ohne Bedenken schlüpfte ich in ihr Kostüm und machte es den anderen gleich. Ein Wunder, dass ich nicht größenwahnsinnig wurde. Nach zwei Monaten trat ich bereits in einer Morgenfeier des Düsseldorfer Ibachsaals in der Rolle des jungen Mädchens in „Der Tor und der Tod“ von Hug von Hofmannsthal vor das Publikum und erntete auch bei der Presse Beifall. Ich zitiere hier nur einige Ausschnitte aus Zeitungsartikeln, die einen kurzen Überblick über meinen künstlerischen Werdegang geben.

 

Dazu gehört auch ein von Antje Olivier verfasster Bericht, der am 22. September 1977 in den „Düsseldorfer Nachrichten“ erschienen ist: „Vom Piepchen zur Diva“: „Eine einzige Zeitung hat es einmal gewagt zu schreiben: ‚Sie ist kein Stern, sie ist nur eine Schnuppe‘. Ansonsten erinnert sich Ria Thiele nur an gute Kritiken, die ihr während ihrer langen künstlerischen Laufbahn immer wieder Auftrieb gaben. […] Ria Thiele blättert in zwei dicken Bänden, die ihre bewegte künstlerische Laufbahn festgehalten haben. Jeder Zeitungsausschnitt, jedes Foto, ob nun als Ophelia in ‚Hamlet‘ oder in ihrer Tanzpantomime in Griegs ‚An den Frühling‘, wird hier aufbewahrt.

Angefangen hatte eigentlich alles durch Rias Vater, einem Beamten wider Willen, der lieber Kopfstand machte, seine sieben Kinder Salto mortale beibrachte oder auf den Händen die Treppe heruntermarschierte. Ria Thiele: ‚Wo gibt es noch eine solche Erziehung? Uns hat er jedenfalls ein Stück Genialität mitgegeben.‘ 1921 lief ihr erster Zwei-Jahres-Vertrag mit der Schauspieldirektion Dumont-Lindemann und sicherte ihr eine für damalige Begriffe enorme Monatsgage von RM 500,- - für das erste und RM 1000,- - für das zweite Jahr. Liebevoll nannten sie die Kollegen das ‚Piepchen‘. Ihre erste Rolle spielte die begabte junge Ria in ‚Frühlingserwachsen‘ von Frank Wedekind. Es folgten u. a. das Gretchen im ‚Faust‘ und das Hyazinthenfräulein in Strindbergs ‚Gespenstersonate‘. Was sie aus der großen Schar junger Schauspieler hervorhob, war ihre enorme tänzerische Begabung. Alexander Ostrowsky, der Partner der weltberühmten russischen Tänzerin Anna Pawlowna, hatte ihr Tanztalent entdeckt. Sie durfte mit ihm 1922 im Düsseldorfer Schauspielhaus ihren ersten Tanzabend bestreiten und erntete mit einer kleinen Pantomime zu Dvoraks ‚Humoreske‘ stürmischen Beifall.

Als das Düsseldorfer Schauspielhaus im selben Jahr seine Pforten schloss, empfahl die Direktorin Louise Dumont die junge Schauspielerin an das Nationaltheater München und beschrieb sie als ‚das köstlichste Talent, das wir im Hause haben . . . das Entzücken der Stadt!‘ Zur gleichen Zeit hatte Ria jedoch schon einen Vier-Jahres-Vertrag mit dem Deutschen Volkstheater in Wien unterzeichnet, von wo aus sie zahlreiche Gastspiele und Tanzabende in die europäischen Hauptstädte unternahm.

Sie filmte mit Hans Albers, spielte als Partnerin von Otto Preminger und Alexander Moissi; in Prag feierte man sie als die neue Paula Wessely. Mit der berühmten Reinhardt-Bühne ging sie auf Tournee. 1928 wurde sie Mitglied des Deutschen Theaters Prag. Sie lernte den jüdischen Fabrikanten Karl Levinger kennten, heiratet 1929 und musste schmerzliche erfahren, was es heißt, die Ehefrau eines rassisch Verfolgten im Hitler-Regime zu sein. 1935 emigrierte das Paar nach Spanien.“ […]

 

Mein Leben teilte sich in zwei Phasen. Heute werte ich den glanzvollen Abschnitt eher als den unteren Weg und den später markierten, dornenvollen als Höhenpfad. Leid ist Bewegung, Leid lehrt Erbarmen, Leid ist der wahre Reichtum. Auf die Frage: „Würdest du, vor dieselben Aufgaben gestellt, alles wieder so machen?“, könnte ich nur antworten: „Gewiss. Ich folgte der Stimme meines Herzens.“ Zudem geschehen die Dinge meist zwangsläufig. Louise Dumont stellte an uns in künstlerischer, wie auch in menschlicher Hinsicht höchste Anforderungen. Wir standen im Ruf eines sakralen Ordens. Mit dem mir von meiner Lehrerin vermachten geistigen Rüstzeug überlebte ich sogar das spanische Abenteuer. Die Nora von Ibsen – es war 1932 meine letzte Gastspielrolle im Düsseldorfer Schauspielhaus – verwandelte sich in eine Farmerfrau in Spanien. Hierzu brachte das „Prager Tagblatt“ folgende Notiz:

„Farmerin Ria Thiele. Ria Thiele, die unvergessene reizende Schauspielerin des Prager Deutschen Theaters, hat in Spanien eine neue Existenz gefunden. Sie ist mit ihrem Gatten, dem Ulmer Wäschefabrikanten Levinger, aus Deutschland ausgewandert. Das Ehepaar sich in Alcalá de Henares […] eine Autostunde von Madrid, niedergelassen und betreibt eine angekaufte Hühnerfarm. Die beiden sind von ihrem keineswegs leichten Beruf ungemein begeistert und arbeiten mit Fleiß daran, die Farm hochzubringen. Levinger hat ein Motorrad angeschafft, mit dem er täglich die frischen Eier nach der Hauptstadt bringt, und Ria Thiele sorgt im Kopftuch, Schürze und Pantoffeln von früh bis abends für Ihre kleinen Schützlinge.“

Ja, dorthin hatte es uns Anfang des Jahres 1936 verschlagen. […] Aufgrund der jüdischen Abstammung meines Mannes hatten wir uns gezwungen gesehen, unsere gutflorierende süddeutsche Wäschefabrik gegen diese Hühnerfarm, die höchstens ein Fünftel der Fabrik wert war, zu tauschen. Man musste es noch als einen außerordentlichen Glücksfall betrachten, auf diese Weise der Naziverfolgung mit all ihren Konsequenzen entkommen zu sein.“ 

 

Quelle: Einleitungskapitel der Darstellung von Maria Thiele: „Und mir wuchsen Flügel. Mein Kampf gegen das Räderwerk der Franco-Justiz. Autobiografisches Zeitdokument“

Neuss: Ahasvera Verlag 1994, S. 5-8.

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