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Einleitung

Dietrich Busse: Historische Semantik. Einleitung

Historische Semantik ist bislang überwiegend im Gewande der Begriffsgeschichte betrieben worden; diese versucht, durch die Beschreibung von Begriffsinhalten den Wandel von Auffassungsweisen der Wirklichkeit (v. a. historischer und poli­tischer Art) zu erfassen und zu erklären. Jedoch kommen ihre Resultate selten einmal über die traditionelle Geschichte der Ideen, d. h. des wissenschaftlich­philosophischen Bewußtseins, hinaus. In jüngerer Zeit sind allerdings Neube­gründungen der historischen Semantik auf den Plan getreten, die dieser die Funktion einer umfassenden Bewußtseinsgeschichte historischer Zeiten zuschrei­ben wollen. Die Rechtfertigung dafür beziehen sie aus der Einsicht, daß sich erst in der Sprache die Konstitution gesellschaftlicher Erfahrungen nachvollziehbar niederschlägt, und daß darum eine semantische Analyse, das historische Nach­verfolgen der Entwicklung sprachlicher Äußerungsformen und ihrer Inhalte, am ehesten Aufschluß über den Wandel von Auffassungsweisen geben kann.

Eine bewußtseinsgeschichtlich orientierte historische Semantik kann nun die Objekte ihrer Untersuchung, (in aller Regel sprachliche) Äußerungen, nicht iso­liert betrachten. Eine sprachliche Aussage bedarf, um verstanden werden zu können, stets eines bestimmten epistemischen Kontextes, d. h. eines Wissens, das erst die Äußerung lautlicher oder schriftlicher Zeichen sinnvoll macht.

Unterschiedliche (kommunikative und andere) Erfahrungskontexte können bei ein und demselben sprachlichen Zeichen zu völlig gegensätzlichen Interpreta­tionen führen, welche mitunter gravierende (außersprachliche) Folgen haben können. Das stärkt die Vermutung, daß Faktoren des epistemischen (Wissens-) Kontextes mehr als nur akzidentelle Funktion für das Zustandekommen sprach­licher Verständigung haben. Zwar versucht auch eine ideengeschichtlich orien­tierte Begriffsgeschichte oft, kontextuelle Faktoren aufzuhellen, doch wird selten die ganze Bandbreite der für das Gelingen kommunikativer Verständigung not­wendigen Wissens- Voraussetzungen zum Gegenstand der Analyse gemacht. Die­ses Versäumnis beruht auf einem Mißverständnis über die Funktionsweise der Sprache, das nicht nur oberflächlich ist. Vielmehr hat es den Anschein, als seien grundlegende sprachtheoretische Bestimmungen, vor allem hinsichtlich des Be­griffs sprachlicher Bedeutung, ungeklärt, bzw. auf falschen sprachtheoretischen Annahmen aufgebaut. Nur wenige Begründungsversuche der historischen Seman­tik machen sich die Mühe, diese Grundannahmen überhaupt zu thematisieren; und wenn dies geschieht, dann meist unter auffälliger Mißachtung gegenwärtiger sprachwissenschaftlicher Diskussionen.

Diese Arbeit unternimmt deshalb den Versuch, die sprachwissenschaftlichen Defizite vorliegender Konzeptionen der historischen Semantik darzustellen, um anschließend dieser zu einer neuen sprachtheoretischen Begründung zu verhelfen, die dem mit ihr verbundenen Anspruch, nämlich Beitrag zu einer Bewußtseins­geschichte historischer Epochen zu sein, gerecht werden kann. Sie reagiert damit nicht nur auf eine auffällige Lücke in der linguistischen Diskussion, die sich um geschichtliche Fragestellungen seit Saussures Trennung von Synchronie und Dia­chronie kaum mehr gekümmert hat, sondern auch auf einen ausdrücklich ge­äußerten Wunsch der meist aus der Geschichtswissenschaft kommenden histori­schen Bedeutungsforscher.

Die sprachwissenschaftliche Grundlegung einer bewußtseinsgeschichtlichen historischen Semantik hat sich in einem Diskussionsrahmen zu entwickeln, der erkenntnistheoretische Folgerungen sprachtheoretischer Grundfragen, wie z. B. das Verhältnis von Sprache, Erkenntnis und Wirklichkeit, ebenso einbezieht wie kommunikationstheoretische Grundlagen der Erklärung sprachlicher Vorgänge, wie z. B. die Bedeutungskonstitution und den Bedeutungswandel. Die Bedeu­tungstheorie wird selbstredend im Vordergrund der Argumentation stehen, da nur mit einem Konzept, das die Entstehung sprachlicher Bedeutungen und ihren Wandel, und dies im Zusammenhang mit der Konstitution gesellschaftlicher Er­fahrung, erklären kann, die Aufgabe und Methode historisch-semantischer For­schung hinreichend bestimmt werden kann.

Eine bewußtseinsgeschichtliche Orientierung der historischen Semantik kann sich nicht mit einem traditionellen ,essentialistischen' Bedeutungskonzept be­gnügen, das die Relation zwischen sprachlichen Zeichen und ihren Bedeutungen als mehr oder weniger feste Beziehung zweier unveränderlicher Größen auffaßt; vielmehr muß sie sich auf ein Konzept beziehen können, das gerade die Vielfalt kommunikativer Sinnmöglichkeiten, die Situations- und Kontextabhängigkeit sprachlicher Zeichenverwendungen, in ihr Erklärungsmodell mit einbezieht. Nur so, wenn die Funktion aller epistemischen Faktoren beschrieben wird, die für die kommunikative Verständigung und damit für die kollektive Verständigung über die Welt wesentlich sind, kann die sprachliche Konstitution gesellschaftlichen Bewußtseins und ihre Veränderung wirklich erklärt werden. Eine sprachwissen­schaftliche bedeutungstheoretische Grundlegung der historischen Semantik hat dies zu berücksichtigen.

Die Konzeption dieser Arbeit ist so angelegt, daß zumindest all die sprach­theoretischen Hindernisse beseitigt werden, die bisher eine ausreichende Begrün­dung der bewußtseinsgeschichtlichen historischen Semantik behindert haben. Das Spektrum der behandelten Probleme ist deshalb relativ weit gefaßt. Am Anfang steht ein überblick über die gegenwärtig dominierenden Positionen in Begrün­dung und Methodik der historischen Semantik. Zu diesem überblick gehört die Feststellung des linguistischen Desinteresses an der historischen Semantik, dessen Ursachen kurz nachgespürt wird. Das herrschende Paradigma der historischen Semantik ist zweifelsohne die Begriffsgeschichte; da diese sich in der Historio­graphie am weitesten entfaltet hat und historische Semantik einen wichtigen Rang unter deren Methoden hat, soll die Position der historischen Semantik im Rahmen historischer Forschung bestimmt werden. Anschließend werden die wich­tigsten begriffs geschichtlichen Methodenansätze dargestellt und auf ihre sprach­theoretischen Defizite hin abgefragt. Sind so die Defizite gegenwärtiger Kon­zeptionen herausgestellt, müssen die Ziele und Aufgaben einer sprachtheoreti­schen Begründung der Semantik historischer und politischer Sprache näher bestimmt werden. Dabei wird auch die grundsätzliche Frage gestellt, ob Be­griffs geschichte überhaupt der geeignete Rahmen für eine bewußtseinsgeschicht­liche historische Semantik sein kann.

Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Begriff, Wort und Gegenstand wird deutlich, daß das Konzept von ,Begriff' in der Begriffsgeschichte ungeklärt ist, und daß unreflektiert in die Begriffe das hineingepackt wird, was besser als Leistung eines ganzen kommunikativen Prozesses beschrieben wird. Mit dem ,Begriffs'-Begriff der Begriffsgeschichte lassen sich die Konstitutionsmechanismen und -bedingungen von Bedeutung, und damit von gesellschaftlich artikulierter Wirklichkeit, nicht adäquat fassen. Die Defizite beruhen vornehmlich auf einem unzureichenden Bedeutungskonzept, das sprachliche Bedeutungen als feste ,Enti­täten' auffaßt. Vorrangig für eine sprachtheoretische Begründung der Begriffs­geschichte ist damit die Formulierung eines geeigneteren Bedeutungskonzeptes.

Bedeutungen werden in kommunikativen Handlungen konstituiert, die im Kontext situativer, I epistemischer und praktischer Bezüge stehen, welche alle einen Teil zur Sinnrealisierung in der sprachlichen Verständigung beitragen. Es soll gezeigt werden, daß Bedeutungskonstitution, Bedeutungskontinuität und Bedeutungswandel mit den herkömmlichen sprachtheoretischen Konzepten nicht hinreichend beschrieben werden können, sondern daß es dazu eines Konzeptes bedarf, das Kommunikation als sprachliches Handeln nach Handlungsmustern in einer konkreten kontextuellen Lage definiert. Ein solches Konzept, dessen theoretische Wurzeln einerseits auf Wittgenstein, andererseits auf Diskussionen der analytischen Handlungstheorie zurückgehen, wird in dieser Arbeit entwik­kelt. In dem hier vorgeschlagenen Modell treten besonders die kognitiven, situativen und epistemischen Voraussetzungen der kommunikativen Handlungen wie der Verstehensakte in den Vordergrund, da nur deren Analyse die Einbin­dung sprachlicher Außerungen in signifikative Kontexte, und damit die seman­tische Beziehungsstruktur hinreichend freilegen kann. Es wird auch gezeigt, war­um eine solche Freilegung zu den wesentlichen Zügen der bewußtseinsgeschicht­lichen historischen Semantik gehört.

Da ein Modell kommunikativer Interaktion, wie es in dieser Arbeit entwickelt wird, allein nur die Konstitution von kommunikativem Sinn erklärt, nicht je­doch die diachrone Tradierung von ,Bedeutungen', wird diesem Aspekt ein gesonderter Abschnitt gewidmet. Dort werden vier gängige Konzepte zur Erklä­rung diachroner Prozesse der sprachlichen Sinnkonstitution dargestellt und in ihrem Nutzen für ein Konzept der kommunikativen Interaktion (als Grundlage einer Theorie der historischen Semantik) gegeneinander abgewogen. Es handelt sich dabei um das Konzept der Konvention, das anhand der Theorie von D. K. Lewis eingeführt wird, linguistische Konzepte sprachlicher Regeln, die hauptsächlich in der sog. ,Pragmatik' eine Rolle spielen, den Begriff des Sprach­spiels bei Wittgenstein, und schließlich das Konzept der Diskursanalyse, wie es vor allem von M. Foucault entwickelt wurde. Dabei betreffen die beiden ersten Begriffe eher den Bereich der kommunikativen Einzelhandlung und die Rolle, welche einzelne Handlungsmuster in ihr spielen, während die letzten beiden Begriffe eher den Bereich der die Einzelhandlung übergreifenden gesellschaft­lichen kommunikativen und außersprachlichen Praktiken betreffen. Diese beiden Konzepte sind möglicherweise geeignet, die übergreifenden signifikativen Prozesse, die Veränderungen kommunikativen Wissens und ihre Auswirkungen auf die sprachliche Sinnrealisierung zu erhellen. Wegen der zentralen Stellung der Begriffsgeschichte im Paradigma der historischen Semantik wird in beiden zentralen Kapiteln dieser Arbeit die Stellung von ,Wort' und ,Begriff' im kom­munikativen Handeln und in den Prozessen sprachlicher Bedeutungstradierung behandelt. Am Ende der Diskussion steht dabei der Verzicht auf einzelne Wort­Zeichen als Aufhänger für historisch-semantische Analysen, der ausgeglichen werden soll durch den Vorschlag, historische Semantik als Diskurssemantik zu betreiben. Die Notwendigkeit der Einbeziehung diskursiver Zusammenhänge ergab sich aus dem bewußtseinsgeschichtlichen Interesse der historischen Seman­tik; hier werden deshalb die Möglichkeiten und Vorgehensweisen einer Diskurs­semantik aufgezeigt.

War die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von sprachlicher Ver­ständigung und gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstitution zuvor noch ungeklärt geblieben, so kann nunmehr gezeigt werden, daß die Konstitution kommunika­tiver Bedeutung, und damit die kommunikative Gegenstandskonstitution, nur als Konstitution gesellschaftlichen Wissens in kommunikativen Handlungen adäquat erklärt werden kann. Die Rolle des kollektiven Wissens für die sprach­liche Verständigung wird deshalb ebenso einer Prüfung unterzogen, wie ver­sucht wird, anhand des Modells der kommunikativen Interaktion einen neuen Begriff des ,Begriffs' zu entwickeln, der diesen von der Bindung an einzelne Lautzeichen abkoppelt. Die zentrale Stellung eines solchen Konzeptes kommuni­kativer Gegenstandskonstitution für die Ziele der historischen Semantik wird herausgestellt.

Falls in dieser grundlagentheoretischen Arbeit vielleicht nicht alle Fragen der Praktiker beantwortet sein sollten, falls die hier vorgelegte Antwort eines Lin­guisten auf die Unterstützungsforderung der Historiker an die Sprachwissen­schaft manche Historiker, sicher auch manche Linguisten nicht befriedigen sollte, so sollte doch zumindest die Diskussion über sprachhistorische Frage­stellungen in der Sprachwissenschaft hiermit neu eröffnet sein. Eine solche Neu­orientierung der Linguistik auf verschüttete Themen wäre schon ein schönes Ergebnis.

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