1. Miriam Fest (Ein Tag am Meer)
Prosa 1. Platz
Ein Tag am Meer - Miriam Fest
Das kleine Mädchen vergrub seine Füße im nassen Sand. Allenthalben brauste eine Welle heran und gab sie wieder frei, nur damit sie von Neuem in die teigige Masse gebohrt wurden. Es gluckste vergnügt, als der Schlamm seine Füße abermals mit einem lauten Schmatzen verschluckte. Das Kind reckte die Arme in die Höhe und verschränkte sie hinter dem Kopf. Die nächste Welle näherte sich.
Es war ein heißer Tag, so heiß, dass man sich selbst im Schatten des Sonnenschirms noch jedem einzelnen der vierunddreißig Grad Celsius hilflos ausgeliefert fühlte. Sie seufzte und nahm sich eine weitere Limonade aus der Kühlbox. Sie hantierte ungelenk mit dem Flaschenöffner am Kronkorken des eiskalten Getränkes, schaffte es nach endlosen Sekunden schließlich ihn zu entfernen und setzte die Flasche hastig an die Lippen. Sie schloss die Augen und verfolgte genüsslich jeden einzelnen Tropfen der Flüssigkeit auf seiner Reise durch ihre Speiseröhre. War das herrlich. „Mach mir auch eine auf, Rita!“, forderte eine quäkende Stimme neben ihr. Sie öffnete die Augen. Das kleine Mädchen stand neben ihrem Klappliegestuhl und schürzte ungehalten die Lippen. „Wie sagt man, wenn man etwas haben möchte, Susi?“ Der bockige Gesichtsausdruck des Kindes hinter der roten Sonnenbrille veränderte sich zu einer nachdenklichen Grimasse. „Bitte.“, murmelte sie dann, „Ich hab so Durst.“ Rita lächelte zufrieden und kam ihrer Bitte nach.
Ihre Schwester war eine kleine Diva und oft leidlich unverschämt, aber sie war wohlerzogen und lieb, wenn man mit ihr umzugehen wusste. Sie reichte der Vierjährigen die geöffnete Flasche, „Trink langsam, Schätzchen, sonst bekommst du Schluckauf.“ „Ja, ich weiß.“, erwiderte ihre Schwester, schob sich mit ihrer winzigen Hand die Sonnenbrille in die blonden Haare und ließ sich auf das große blaue Strandtuch neben dem Klappstuhl fallen, „Ich bin ja kein Baby.“ Rita lehnte sich zurück, „Nein, aber dafür bist du ein kleiner Quälgeist.“ Susi streckte ihr die Zunge heraus. Eine Weile saßen sie still nebeneinander. Es war der 11. Juli 1959, Hochsommer also, und der Strand war von Menschen übersät. Dort, wo Susi eben noch ihre Füße gebadet hatte, waren mittlerweile zwei kleine Jungen bemüht eine Sandfestung zu errichten, deren Mutter ihnen von Weitem zurief, dass sie es ja nicht wagen sollten diesen Dreck auf die mitgebrachte Stranddecke zu tragen, während sie den Rücken ihres Mannes mit Sonnenöl versorgte. Die beiden nahmen keine Notiz von den Mahnungen ihrer Mutter. Ritas Blick fiel auf ihre Schwester, die im Schneidersitz auf dem Strandtuch saß, die halbgeleerte Limonadenflasche in den kleinen Händen balancierend und den Blick versonnen auf die beiden Jungen gerichtet. „Komm, gib mir die Flasche, Schätzchen, ich passe darauf auf, solange du spielst.“, bot sie dem Kind an und wollte nach der Flasche greifen, aber das Mädchen wich der Geste aus. „Ich will nicht mit denen spielen. Die sind immer gemein zu mir und lachen.“, sagte es leise. Rita stutzte und sah wieder zu den beiden Knaben. Susi hatte Recht, sie kamen ihr bekannt vor. Gestern Abend, als die Schwestern gemeinsam mit ihren Eltern beim Abendessen in der Strandgaststätte saßen, war diese Familie auch dort gewesen. Die beiden Bengel waren fürchterlich ungezogen und der Vater hatte die Zwei zur Strafe schließlich auf ihr Zimmer gebracht und ihnen höchstwahrscheinlich eine saftige Tracht Prügel erteilt. Sie schüttelte den Kopf, „Nein, mit denen solltest du wirklich nicht spielen.“ Sie nahm ihrer kleinen Schwester die Sonnenbrille aus den Haaren und strich ihr über den Kopf: „Und lass dich nicht ärgern. Die sind es gar nicht wert, dass du dein hübsches Gesicht verziehst.“ Das Kind lächelte, griff sich die Sonnenbrille aus der Hand der älteren Schwester und zog sie wieder auf: „Können wir ein bisschen Musik hören?“ „Aber sicher.“, erwiderte die Ältere und drehte sich zu der großen Korbtasche um, in der das neue Transistorradio verstaut war, das der Vater ihr zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie blickte hinein und stellte fest, dass es nicht dort war. Der Backfisch, wie ihre Mutter Rita und ihre Altersgenossinnen bezeichnete, wunderte sich. Sie hatte es auf dem Zimmer ganz bestimmt in diese Tasche gepackt. Sie überlegte. Sie musste es auf dem Bett stehen gelassen haben. Wie ärgerlich. Sie nahm die Tasche und legte sie sich über die Schulter, während sie aus dem Liegestuhl aufstand. Das Mädchen in dem gelben Schwimmkleid mit den sich überkreuzenden Trägern, das die Mutter für die beiden Töchter gleichermaßen hatte anfertigen lassen, sah zu seiner Schwester hoch. „Was machst du, Rita?“, fragte es beunruhigt. „Susi, magst du einen Moment hier sitzen bleiben und wie ein großes Mädchen auf unsere Sachen aufpassen? Ich muss nur eben das Radio aus dem Hotel holen, ich habe es nicht mitgenommen. Du musst nur hier sitzen bleiben und warten, ich beeile mich auch und bin ganz schnell wieder bei dir.“, antwortete die brünette junge Frau der Kleinen beschwichtigend. „Ich weiß nicht.“, nuschelte das Kind. „Was hälst du davon, wenn ich uns beiden auf dem Rückweg eine Portion Eis mitbringe?“ Die Gesichtszüge hinter der roten Sonnenbrille, die sich eben noch in unzähligen Sorgenfalten verdunkelt hatten, klarten wieder auf. „Au ja, ein Eis!“, rief Susi verzückt, „Ich möchte Erdbeereis, bringst du mir Erdbeereis mit, Rita? Bitte!“ Sie klatschte in die kleinen Hände und schob ihre ältere Schwester danach energisch in Richtung der Strandpension.
Die Tasche war durch das Kofferradio schwerer und Rita musste sich deshalb zur Seite neigen. Das machte es nicht unbedingt leichter die beiden Eistüten zu balancieren, die sie gekauft hatte. Aber der Weg zum Strand war nicht mehr lang. Je näher sie dem Strand jedoch kam, umso lauter schien es zu werden; sie wurde nervös und hob den Kopf gerade rechtzeitig, um inmitten eines Menschenauflaufes dasselbe helle Gelb aufblitzen zu sehen, das auch ihr eigenes Badekleid besaß. Sie verlor die Beherrschung und rannte los; dass sie dabei das Eis fallen ließ, merkte sie nicht.
Die Schwester öffnete die Zimmertür, den Speisewagen vorsichtig hinter sich hereinrollend. Diese Patientin war unkompliziert, eine stille alte Dame, die im Gegensatz zu den anderen demenzbedingten Pflegefällen dieser Station nie Wutausbrüche hatte. Sie war immer sehr in sich zurückgezogen, aber noch recht selbstständig bei den meisten Handlungsabläufen. Auch jetzt saß sie auf ihrem Bett, die dunklen Augen leer und ohne einen Fixpunkt. „Hallo, Frau Weber.“, begrüßte die Schwester die ältere Frau ohne eine Antwort zu erwarten, „Sehen Sie, wo es heute so warm ist, dachten wir uns, Sie würden sich über eine schöne Portion Eiscreme freuen.“ Sie zog den Speisewagen heran und klappte den Tischaufsatz der Nachtkonsole vor der alten Dame aus. Sie rührte sich nicht. Die Schwester seufzte. „Möchten Sie Vanille- oder Erdbeereis?“, fragte sie, griff dabei bereits nach einer Schale und erschrak, als die Patientin mit ihrer lange ungenutzten Zunge antwortete: „Erdbeereis, bitte. Für Susi.“
Über die Wangen der alten Dame rannen Tränen.