3. Miriam Fest (Das Monster)
Prosa 3. Platz
Das Monster - Miriam Fest
Ich sehe in Gesellschaft einer großen Anzahl Fremder, der ich zwangsläufig ausgeliefert bin, gerne aus dem Fenster. Das hat nichts mit Unhöflichkeit zu tun. Es ist vielmehr eine ergiebigere Möglichkeit, Menschen einzuschätzen, als ihr Verhalten direkt zu beobachten. Ich glaube, nur die wenigsten Menschen, die je aus einem Fenster gesehen haben, haben die maßlose Schönheit dieser einfachen Glaserarbeit je wirklich zur Kenntnis genommen. Geschweige denn ihren Nutzen.
Die meisten Menschen blicken aus dem Fenster einfach nur hinaus. Ich blicke nicht hinaus. Ich nutze den Anschein des Hinausblickens weitaus lieber, um hinein zu sehen. Denn ein Fenster ist nicht bloß transparent. Je nach Lichtverhältnis ist ein Fenster sogar ein ziemlich guter Spiegel. Die innige Liaison von Licht und Glas, die mir die vielfältigsten Reflexionen beschert, bleibt den anderen Menschen jedoch verschlossen. Traurig für sie, aber umso schöner für mich, denn so behalte ich mein kleines Reich.
Auch in diesem Moment betrete ich es wieder. Ich fahre mit der Stadtbahn durch den dichten Verkehr des Großstadtmolochs, aber erfreulicherweise durch die Scheibe des Fensters geschützt vor seinem Lärm. Es ist früher Abend, die Plätze sind voll besetzt und selbst im Gang drängen sich noch einige Personen aneinander. Alle mit perfekt ins Gesicht gemeißelter Gleichgültigkeit. Doch das hält nur solange an, wie sie sich beobachtet glauben. Die Reflexion im Fenster nimmt den Moment auf, in dem sie alle sich in dem Urvertrauen auf die Anonymität des Stadtmenschen wieder ihrer selbst hingeben. Im Schnitt hält ihre Fassade exakt die ersten drei Stationen ihrer Fahrt. Wenn sie schweigen. Diese stillen Reflexionen sind mir die liebsten. Ihre Mimik ist viel spannender anzusehen. Die feinsten ihrer Ausdrucksveränderungen geben mehr über sie preis als jedes Wort von ihnen könnte. In den Augen ihrer Reflexionen lese ich ihre Geschichte, koste jeden Tropfen Emotion, den ich in ihnen erhasche, aus und labe mich daran wie die Motte am Licht. Es ist ein unvergleichliches Gefühl von Überlegenheit.
So ähnlich muss es dem Löwen gehen, der dazu ansetzt die nichtsahnende Antilope am Wasserloch anzugreifen. Ich lasse meinen Blick an den Reflexionen entlang durch den Waggon schweifen. Ein wenig entfernt von mir steht ein älterer Mann neben einem telefonierenden jungen Mädchen. Er wahrt seinen Schein gut, seine Blicke mustern die Kleine mit einer Art väterlichem Wohlwollen, eventuell hat er selbst ein Kind in ihrem Alter. Aber das Fenster lässt mich tiefer blicken. Irgendwo zwischen all diesem Wohlwollem, hinter dieser durchdachten Fassade leckt sich ein Monster über die Lippen. Es blitzt in den Augen seiner Reflexion kurz auf und rebelliert gegen seine Ketten, als er seinen Blick einen Tick zu lange auf ihrer schmalen Figur verweilen lässt. Wir alle haben dieses Monster in uns. Nicht immer das gleiche, aber es gibt in uns allen diesen dunklen Winkel, den wir nicht nach außen tragen wollen und in uns einmauern. Hübsch angepinselt und mit dem entsprechenden Auftreten wirkt dann selbst der gemeingefährlichste Wahnsinnige wie der nette Typ von nebenan.
Fassadenlesen könnte man das nennen, was ich betreibe. Obwohl es eigentlich eher ein Reflexionsscan ist. Es ist schwer zu sagen, was es genau ist. Ich habe eine obsessive Neugier an anderer Menschen tiefsten Abgründen. Aber das Dunkle in direkter Offenbarung zu erfahren wäre zu gefährlich. Es bringt einen in die Bedrängnis, dass der andere entweder versuchen wird einem das Gleiche zu entlocken oder noch Schlimmeres. Zwei Sitzreihen vor mir sitzt eine Gruppe junger Leute. Drei Frauen, ein Mann. Der junge Mann ist mit der Frau neben ihm in einer Beziehung. Sie hat sich bei ihm eingehakt. Muss unbequem sein, soviel Nähe auf so engem Raum, egal, wie verliebt man ist, die Position kann keinen Spaß machen. Aber er gibt das nicht zu erkennen. Ich verfolge seine Mimik auf der gläsernen Oberfläche und werde bald seinem Blickaustausch mit der Frau ihm gegenüber gewahr. Sein Interesse ruht also nicht auf seiner, sondern auf der Freundin. Welche Ironie, wie viel Unterschied so ein kurzes Wort wie ein Artikel ausmachen kann. Wie unerfreulich für das zierliche Wesen zu seiner Rechten. Rechts? Ich kehre visuell kurz zurück an den tatsächlichen Ort meiner Unterhaltung und überprüfe die kleine Gruppe direkt. Das glückliche junge Pärchen sitzt mit seinen beiden Freundinnen für mich schwer erkennbar, da ein Büroangestellter, der sich unmittelbar neben meinem Platz aufgebaut hat, mir die Sicht versperrt. Ich kann aber ausmachen, dass sie links von ihm sitzt. Die Reflexion kann mich einzig in diesem Punkt täuschen. Sie verzerrt die Realität in Bezug auf die Anordnung der Dinge. Aber das verwirrt mich nur noch hin und wieder.
Ich tauche wieder ein in die Galaxie der Abbildungen meiner Umgebung. Aber diesmal bleibe ich an einer Reflexion hängen, der ich mich ungern stelle. Meine Augen sind trübe und das Make-Up verschmiert. Ich sehe übernächtigt und sehr erschöpft aus. Meine Haare hängen strohig an den Seiten meines Gesichts herunter, und meine ganze Mimik ergießt sich in einem Meer aus Verzweiflung und Kummer. Auch wenn ich es bin, deren Reflexion ich in der Spiegelung des Fensters sehe, muss ich mich den Abgründen stellen. Meinen Fehlern, all der tief in mir vergrabenen Enttäuschung und dem Schmerz über verpasste Chancen. Das Unerfreuliche, vor dem ich geflohen bin, hat mich bis an den Rückzugspunkt verfolgt. Ich höre die Ansage der nächsten Station nicht, da sind zu viele Gedankendämme in meinem Kopf gebrochen gerade. Das Monster in mir hat sich aus seinen Fesseln befreit. In mir stürmt die Wahrheit wütend gegen die Fassaden an. Ich kann nicht mehr still und unauffällig beobachten. Nichts in mir ist still oder unauffällig. Aber wenn ich jetzt die Kontrolle verliere, werden sie mich stumm auswerten. Mein ganzes Wesen würde brach liegen vor dem Gericht der Allgemeinheit. Ich schlucke, versuche mich durch langsames Ein- und Ausatmen zu beruhigen. Es rauscht in meinen Ohren.
Ehe ich großartig anders entscheiden kann, greifen meine Selbstschutzinstinkte ein und ich drücke auf den Halteknopf an der Tür, warte innerlich bebend, aber nach außen noch mit enormer Fassung darauf, dass sich die Türen öffnen. Als ich endlich den Lärm der Stadt wieder vernehme und aus dem Kabinett der Reflexionen entronnen bin, wage ich erst nach einigen prüfenden Schritten und mit fast zum Erliegen gekommenen Herzschlag wieder zu atmen. Ich blicke auf die Uhr und zähle im Kopf nach. 29 Stunden, 23 Minuten, irgendwelche Sekunden. Ich schüttle den Kopf, verschränke die Arme und seufze. Haben sie also Recht behalten.
Ich besiege das Monster in mir nicht ohne Tabletten.