Zum Inhalt springenZur Suche springen

Diana Canetti

Düsseldorfer Autorinnen - Diana Canetti

Vita

  • 1943 in Istanbul geboren, wo sie aufwuchs. Ihre Familie „Kaneti“ hat jüdisch-spaniolische, griechische und türkische Wurzeln. Sie besuchte nach der türkischen Volksschule das renommierte französische Gymnasium Notre-Dame de Sion in Istanbul.
  • 1960 folgte im Rahmen eines Jugendaustauschs ein Aufenthalt in Israel.
  • Nach dem Abitur studierte sie in Istanbul Englische Philologie und besuchte gleichzeitig eine Schauspielschule.
  • Während der Studienphase in der Türkei publizierte sie Kurzgeschichten, Theaterberichte und Kritiken in der Zeitschrift „Yeni Insan“. (‚Der neue Mensch’).
  • 1969 erhielt sie ein Sprachstipendium nach Salzburg. Deutsch war die siebte Sprache, die sie erlernte nach Griechisch, Türkisch, Spaniolisch, Französisch, Englisch und Italienisch. Im Winter dieses Jahres ging sie nach Wien und bestand die Aufnahmeprüfung für das Max-Reinhardt-Seminar.
  • Ab Sommersemester 1970 studierte Diana Canetti Theaterwissenschaft an der Wiener Universität. Sie wirkte als Statistin am Burg- und Akademietheater. Während ihres Studiums begann sie in Deutsch zu schreiben und konnte Beiträge im Studio Graz des ORF unterbringen.
  • Seit 1972 veröffentlicht sie Prosa im Wiener Europaverlag; Beiträge in Sammelbänden und Anthologien folgen. Aus der Begegnung mit Elias Canetti, mit dem sie nicht verwandt ist, zieht sie die hohen Anforderungen an die eigene literarische Sprache.
  • 1973 dreht sie in Paris den Kurzfilm „Le Pied“, der auf mehreren Festivals gezeigt wurde.
  • 1974 liest Diana Canetti im Kulturprogramm der Wiener Festwochen aus dem 2. Roman „Cercle d’Orient“, ebenfalls im Europaverlag erschienen.
  • Im Sommer 1975 promoviert sie in Wien mit der Arbeit: „Das gesellschaftskritische Theater in der Türkei“ bei Professorin Margret Dietrich, Theaterwissenschaftlerin und Andreas Tietze, Professor für Turkologie und Islamwissenschaft.
  • Das DAAD-Stipendium „Artist in Residence“ führt sie im Januar 1976 nach Berlin, wo sie u. a. journalistisch für den Rundfunk Rias Berlin arbeitet. Eines der Themen: Das kulturelle Leben der Türken in Berlin. Der Aufenthalt dauert bis März 1977.
  • Zur P.E.N.-Tagung und -Lesung in Den Haag vom 10. - 13. Mai 1976 ist sie als Vertreterin der Türkei eingeladen und tritt neben Stefan Heym (DDR) und Günter Grass (BRD) auf.
  • Seit Frühjahr 1977 lebt und arbeitet Diana Canetti als freie Autorin und Journalistin in Düsseldorf und Paris. Sie schreibt u. a. am 3. Roman: „Ein Mann von Kultur“.
  • Diana Canetti bietet freie Theaterarbeit an der Düsseldorfer Realschule in der Ackerstraße an und sie führt Kurse zu deutscher und internationaler Literatur in der VHS Düsseldorf durch, von Saul Bellow bis Virginia Woolf. 1985 dokumentierte sie die Entwicklung des Antisemitismus in der Ausstellung „Erziehung zum Vorurteil“ im Schauspielhaus.
  • Ab Winter 1988 hält sie sich für 18 Monate bei ihrer Cousine, der Soziologin und Entwicklungshelferin Susie Malka Kaneti Barry, in Ghana auf. Im November 1989 nimmt sie in Accra als Beobachterin am Gründungskongress der Pan African Writers Association teil. Thema des Gründungskongresses: „The African Unity: A Liberation of the Mind“. Die Afrika-Erfahrungen verarbeitet sie in journalistischen Artikeln und in der Romancollage „Goldstaub“, der im Selbstverlag erscheint.
  • Zurück in Deutschland wird ihr eine Journalismus-Ausbildung ermöglicht. Seit 1993 verfasst sie Essays und Features zu interkulturellen Themen für den SWR2 und WDR5. Sie schreibt auch für die Kulturredaktion der Westdeutschen Zeitung in Düsseldorf.
  • Im März 1996 unternimmt sie eine Reise nach Sao Paulo, Brasilien, um ihren seit 20 Jahren verschollenen Bruder Vili Kaneti zu suchen; die Geschwister finden sich wieder.
  • Ende November 1996 nimmt sie an der 1. Migranten-Litera-Tour der Universität Mainz teil: „Drachenflieger der Sprache“ und liest aus der Erzählung „Pygmalion ohne Happy End“ vor.
  • 1998 Diana Canetti engagiert sich im Kontext der Lokalen Agenda 21/ Gruppe Kultur für die „Frauenvernetzung“, die u. a. den Aufbau eines Künstlerinnenhauses und den globalen Künstlerinnenaustausch anzuschieben versucht.
  • In Paris, ihrem Zweitwohnsitz, pflegt sie Kontakte zu Intellektuellen, so etwa zur in Frankreich und Griechenland lebenden Philosophin und Autorin Mimika Cranaki.
  • Im Mai 2002 liest sie als Autorin des Monats am Literaturtelefon Düsseldorf.
  • Zum 70. Geburtstag präsentiert das Frauen-Kultur-Archiv im Oktober 2013 im Heine-Institut eine Lesung aus der neuen Edition ihrer "Betrachtungen zu Mulitkulturalität, Heimat und Fremdsein".
  • Nach schwerer Krankheit stirbt Diana Canetti am 22. Juli 2014 in Düsseldorf. Ihr Grab findet sich auf dem Nordfriedhof.

© Ariane Neuhaus-Koch

Publikationen

Prosa

  • Betrachtungen zu Multikulturalität, Heimat und Fremdsein. Hrsg. von Ariane Neuhaus-Koch. Düsseldorf: Edition Virgines 2013. 147 Seiten
  • D’Istanbule en exils. La vie cosmopolite de Diana Canetti. Paris: Editions Petra, 2013,  151 Seiten
  • Goldstaub: Romancollage aus Afrika in Geschichten und Berichten, Tagebüchern und Briefen. Düsseldorf: Selbstverlag, o. J. [1991], 300 Seiten
  • Das gesellschaftskritische Theater in der Türkei. Dissertation Wien 1975 (masch. Fassung; ein Exemplar befindet sich im Frauen-Kultur-Archiv, Düsseldorf)
  • Cercle d' Orient. Roman. Wien: Europaverlag, 1974
  • Eine Art von Verrücktheit. Tagebuch einer Jugend. Wien: Europa Verlag, 1972

Ungedruckt

  • Roman: Ein Mann von Kultur; es gibt mehrere Fassungen;
  • Roman: Das Kulturgespenst; als Fortsetzung von: Ein Mann von Kultur
  • Theaterstück: Die Kimonos
  • Essays und Märchen

Beiträge in Anthologien, Sammelbänden (Auswahl)

  • Disposition für die Fremde. Eine Begegnung mit der Philosophin Mimika Cranaki. In: Deutschland, deine Griechen… Eine Anthologie (zweisprachig. Hrsg. von Costas Gianacacos, Stamatis Gerogiorgakis. Köln: Romiosini Verlag, 1998, S. 336-356
  • Ein altes Haus wird jung. In: Straßenbilder. Düsseldorfer Schriftsteller über ihr Quartier. Hrsg. von Alla Pfeffer. Düsseldorf: Grupello Verlag, 1998, S. 67-75
  • zusammen mit Bahmand Nirumand, Adel Karasholi: Diskussionen: Die Autoren. „Wir sprechen ihre Sprache, doch sie hören uns nicht! Sind wir zu schlecht für den deutschen Literaturbetrieb?“ In: Literatur der Migration, hrsg. von Nasrin Amirsedghi, Thomas Bleicher. Mainz: Donata Kinzelbach Verlag, 1997, S. 115-137
  • „Ich brauche ein geistiges Haus“. Vom Leben in christlicher, jüdischer und griechisch-orthodoxer Tradition zugleich. [Ein Dialog] In: „Leben - einzeln und frei wie ein Baum und geschwisterlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“ Türkei, Deutschland, Europa. Impulse für die Gegenwartsliteratur: Das Eigene und das Fremde. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 12. - 14. Januar 1996. Iserlohn: Evangelische Akademie, 1996; Serie: Tagungsprotokoll / Evangelische Akademie Iserlohn 96,6, S. 77 – 90
  • Pygmalion ohne Happy End. In: ... die Visionen deiner Liebeslust: Liebe und Erotik in der Fremde. 21. Autoren aus 11 Ländern. Hrsg. von Niki Eideneier. Köln: Romiosini, 1995, S. 117-129
  • Elias Canetti und ich. In: Ganz schön fremd: Literaturen aus Österreich anderswo: Prosa, Poesie, Programmatisches. Hrsg. von Ruth Aspöck. Edition die Donau Hinunter, 1994, S. 20 -43. Wiederabdruck in gekürzter Form: In „Leben - einzeln und frei wie ein Baum und geschwisterlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht“: Türkei, Deutschland, Europa. Impulse für die Gegenwartsliteratur: Das Eigene und das Fremde. Iserlohn: Evangelische Akademie, 1996; Serie: Tagungsprotokoll 96,6, S. 36 – 53

Radio-Beiträge

Für SWR 2

  • Zwanghaft zerstreut. Leben mit einem chaotischen Partner. Bericht. SWR 2, Eckpunkt, 21.02.2001
  • Frau in Hose. Geschichte einer gescheiterten Befreiung. SWR 2, Eckpunkt, 2.02.2000
  • 50 nette Verwandte aus aller Welt. Eine israelische Hochzeit. Bericht. SWR 2, Eckpunkt, 5.10.1999
  • Dein Vater, mein Geliebter. Brief an den Sohn. Lesung. SWR 2, Eckpunkt, 29.07.1999
  • Rote Baskenmütze, schwarzer Hut. Zwei Schriftstellerinnen, zwei Freundinnen: Diana Canetti, Ermine und Sevgi Özdamar. Essay. SWR 2, Eckpunkt, 15.06.1999
  • Sieben Frauen tanzen um sie herum. Ein afrikanisches Fest zu Ehren einer Europäerin. Bericht. SWR 2, Eckpunkt, 17.12.1998
  • Es gibt eine Disposition für die Fremde. Ein Porträt der Philosophin Mimika Cranaki. SWR 2, Eckpunkt, 15.06.1998
  • Mai 1968: Damals stand die Welt Kopf. Feature. SWR 2, Eckpunkt, 19.05.1998
  • Gegen Unrecht muss man sich wehren. Das politische Engagement Bertha von Suttners. Porträt. SWR 2, Eckpunkt, 8.12.1997
  • Auf der Suche nach dem Bruder - Eine brasilianische Reise. Lesung. SWR 2, Eckpunkt, 22.04.1997
  • Die zweite große Chance - Eine Restaurierung. Lesung. SWR 2, Eckpunkt, 10.09.1996
  • Einem Kachelofen gleich - Mimi Zand, die Frau des Dichters. Feature. SWR 2, Eckpunkt, 25.03.1996 (Wiederholung am 5.09.1997)
  • Von Stars, Verlegern und „Lizenztanten“. Als Zaungast auf der Buchmesse. Lesung, SWR 2, Eckpunkt, 7.10.1995
  • Aus Trauer erdacht. Die Versäumnisse einer Hinterbliebenen. Feature, SWR 2, Eckpunkt, 7.08.1995 (Wiederholung am 23.01.1996) 
  • Pygmalion ohne Happy End. Kulturkampf zwischen einem Professor und einer ausländischen Studentin. Feature. SWR2, Eckpunkt, 3.04.1995
  • Verwandt mit einem Großen? Elias Canetti - ein immerwährender Ansporn. Feature. SWR 2, Eckpunkt, 9.01.1995
  • Ich brauche ein geistiges Haus - Vom Leben in christlicher, jüdischer und griechisch- orthodoxer Tradition zugleich. Feature. SWR 2, Eckpunkt, 28.09.1994
  • Das Drama der Sklaven aktuell machen. Ein afrikanischer Fremdenführer als Geschichtsvermittler. Feature. SWR 2, Eckpunkt, 21.02.1994
  • Fremde Sprachen haben viele Fenster. Zu Mehrsprachigkeit. Feature. SWR 2, Eckpunkt, 1.02.1994
  • Wir sind nur Gast auf dieser Erde - In verschiedenen Ländern eine Heimat haben. Feature. SWR 2, Eckpunkt, 26.10.1993
  • Im Gleichgewicht bleiben - Arm wäre das Leben ohne Sport. Feature. SWR 2, Eckpunkt, 15.06.1993

Für WDR 5

Diana Canetti war als Autorin an 38 Sendungen für WDR 5 von 1995 bis 1998 beteiligt. Darüber informiert undefineddie folgende Liste.

Selbstaussagen der Autorin

Wenn man aus einer doppelten christlich-jüdischen Wurzel stammt, dann fühlt man sich prädestiniert, das Verhältnis zwischen Juden und Christen klären zu helfen, sei es auch um den Preis, daß man hinfällt. Wenn sich aus dieser Anregung jedoch keine sinnvolle Arbeit zu ergeben scheint, was kann dann der Sinn für einen Menschen wie mich sein?

Meine alte Tante hatte mir zum Glück die unabänderlichen religiösen Elemente in salbungsvolle Sprüche gekleidet und mir mit auf meinen Lebensweg gegeben. Sie sind immer wieder Wegweiser gewesen, einfach da, um meine Verzweiflung zu bekämpfen.

An seine „Matratzengruft“ gefesselt, wußte der Dichter Heinrich Heine, was Verzweiflung heißt. „Es ist mehr Verwandtschaft zwischen Opium und Religion, als die meisten Menschen sich träumen lassen“ schrieb er. Wenn Heine seine Schmerzen nicht ertragen konnte, dann nahm er Morphium und andere Betäubungsmittel. Nicht umsonst sagt man, daß man um Hilfe fleht, wenn man zusammenbricht.

Mit zunehmendem Alter merkte ich, daß alle Religionen, Traditionen, Gebote und Gesetze etwas Gemeinsames haben. Sie alle sind Versuche, die Schwierigkeiten und die Schmerzen des Lebens zu verkraften. In der Tat, es ist nicht einfach, einer Welt ausgesetzt zu sein, die stets neue Probleme aufwirft. Herauszufinden, welchen Sinn ich in meinem Leben finde und welchen Sinn ich dem eigenen Leben gebe. Nur Geld zu verdienen kann z. B. nicht die Hauptattraktion des Lebens sein. Ich arbeite nicht für den Tanz um das Goldene Kalb. Und ich möchte nicht, daß Geld und Macht zu unserer Religion werden. Ich gehöre rein formal zu keiner Religion, bewahre aber trotzdem auf meine Art und Weise einen Glauben.

Meine Mutter hat ihr Wort gehalten. Sie war als Griechin geboren und starb als Griechin. Zur Kirche ging sie nicht. Über Gott sprach sie nicht. In den letzten Jahren ihres Lebens trug sie allerdings eine Kette mit einem Kreuz, einen Davidstern und einen Bismillahimrahmanirahim. Drei Zeichen, die für Christentum, Judentum und Islam stehen.

Heute liegen diese religiösen Symbole auf einem chinesischen Teller in meinem Schlafzimmer. Und ich unternehme gern Pilgerfahrten, um Heiligtümer, Kapellen, Moscheen, Synagogen und fernöstliche Tempel zu besuchen. Wohnorte der Geister und Götter. Ganz bestimmt glauben viele Menschen nicht an Seelenwanderung und Wiedergeburt, wünschten sich aber, daß es sie gäbe. Das Herz hat Beweggründe, die in der Vernunft allein nicht begründet sind. Vielleicht ist das große Kennzeichen der Religionen das „Prinzip Hoffnung“. Wenn wir ganz unten sind, bleibt uns die Hoffnung, daß eine Auferstehung in einem heilen Körper und einer heilen Seele folgen wird. Daß eine Phase zu Ende gegangen ist, fertig ist, abgelegt. Und dass wir bei Gott von ganz vorn beginnen können.

„Wozu Kinder in eine Religion zwingen? Sie sollen selber entscheiden, wenn sie alt genug sind, ob sie Christen oder Juden sein wollen“, sagten meine Mutter und mein Vater gemeinsam. Viele denken, ich gehöre weder zu einer Religion noch zu einer anderen, Daß ich nirgends hingehöre, wird gleichgestellt mit dem Bild, dass ich nirgends einen Tempel habe.

Doch so ist es nicht. Wer aus doppelten oder dreifachen Wurzeln wächst, bekommt die Überlieferungen sowohl des einen, als auch der anderen Religion, und kann sein geistiges Haus so schnitzen, wie es aus eigenem Entschluß notwendig ist.

(aus: „Ich brauche ein geistiges Haus“. Vom Leben in christlicher, jüdischer und griechisch-orthodoxer Tradition zugleich. In: „Leben - einzeln und frei wie ein Baum und geschwisterlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.“ Türkei, Deutschland, Europa. Impulse für die Gegenwartsliteratur: Das Eigene und das Fremde. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 12. - 14. Januar 1996. S. 88-90).

Es ist mir, als wäre ich nicht, wo ich bin. Als wäre ich an mehreren Orten zugleich. Gern würde ich ein Bild malen, zusammengesetzt aus allen mir besonders vertrauten Orten. Aber sobald ich den Pinsel über die Leinwand bewege, entgleitet es mir. Es ist wie bei Fotos, auf denen ich immer wieder die lieben Gesichter anschaue. Ich kann die Menschen nicht umarmen, denen diese Gesichter gehören. Wie im Traum spüre ich eine dumpfe Angst aufsteigen. Die Angst vor dem Verlust sitzt tief in mir sowie der Glaube, daß etwas dauerhaft sein kann. Aber was soll ich machen? Der Tod und das Werden gehören zum Leben.

(aus: Ein altes Haus wird jung. In: Straßenbilder. Düsseldorfer Schriftsteller über ihr Quartier. Hrsg. von Alla Pfeffer. Düsseldorf: Grupello Verlag, 1998, S. 74)

Texte der Autorin

Meine Freundin Emine Sevgi Özdamar: Rote Baskenmütze und schwarzer spanischer Hut

In der Istanbuler Schauspielschule hatte ich 1968 eine schöne Freundin, mit der ich auf der Bühne Revolution spielte. Im französischen Kalender ist der 14. Juli rot gedruckt. Rot, weil die Bastilleerstürmung der Nationalfeiertag ist. Das Drama lief nicht in der Bastille, sondern im Hospiz zu Charenton unter der Anleitung des Marquis de Sade. Die Schöne verkörperte die Charlotte Corday, die leise und zögernd heran schlich, um Marat zu vernichten. Einen Dolch in der Hand sang sie revolutionäre Lieder und nahm durch die Sprache ihres Körpers und den Klang ihrer Stimme das Publikum für sich ein. Nach der Vorstellung holte ich meine rote Baskenmütze und wir machten uns auf den Weg zur Cinemathek, liefen über die potemkinschen Treppen auf die Petersburger Straßen, verschmolzen mit den Menschenmassen, dann marschierten Massen von Statisten über uns hinweg auf den Roten Platz.

Die Freundin, das roteste Tuch von uns allen, liebte meine rote Baskenmütze und ich dachte, die passe besser zu ihrem revolutionären Kopf und schenkte sie ihr. Sie schenkte mir einen schwarzen spanischen Hut und sagte: „Nimm ihn und reite zu deinen spanisch-jüdischen Wurzeln.“ Der schwarze Hut zog mich nach Cordoba, das ich nie gesehen hatte, zu den Flamencotänzerinnen, die ich bewunderte, aber auch zu den Schiffen voller Flüchtlinge, die sich vor Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon fürchteten.

Der spanische Hut und die Baskenmütze lauschten zusammen dem Vortrag von Heinar Kipphardt im Istanbuler Goethe-Institut. Der Dichter sagte: „Die Kunst muss die Herzen und Hirne bewegen“.

Ende der 60er Jahre ertranken 300.000 Boatpeople aus Vietnam. Was konnte man danach dichten? Wie musste man schreiben? Der Strom türkischer Flüchtlinge nach Europa hatte noch nicht begonnen. Hausdurchsuchungen gehörten noch nicht zur Tagesordnung. Die Lage in der Türkei war bereits prekär. Straßentheater und Straßenschlachten liefen parallel. Masse und Macht, das stand damals noch gar nicht in einem Zusammenhang. Das Soldatengefängnis von Harbiye dagegen war die Bastille, ein ungewöhnliches Gefängnis. Leute, die dem ‚König von Cumhuriyet’ missliebig waren, kamen hinein. Schriftsteller, Buchhändler, Kupferstecher und Buchbinder. Auch Frauen, die mit Büchern umgingen und mit der Feder kämpften.

Die rote Baskenmütze ging in diesem Tumult verloren. Wo? Wohl nicht im Baskenland. Nein, auch nicht in Nordirland. Unterwegs im Zug mit meinem kleinen Koffer vergaß ich beim Aussteigen auf der Gepäckablage den spanischen Hut. Ich schrieb der Bundesbahn die Uhrzeit, das Datum und die Zugnummer, aber der Hut war verloren auf Nimmerwiedersehen.

Während das Gesicht der Welt sich änderte, und die Hüte auf dem Rückzug waren, trafen wir uns in Deutschland. Hüte mit Federn nach bayerischer Art waren nicht unsere Sache. Meine Freundin, jetzt um die fünfzig, war schlank und hatte noch eine frische Haut wie das Mädchen von damals. Als wir uns wiederfanden und einander in die Arme fielen, sagte sie: „Ich wünsche Schwesterlichkeit“.

Es klang wie ein Aufruf! Wie viel Einsamkeit sie inzwischen durchgemacht hatte, wusste ich nicht, doch spürte ich am eigenen Leib, was Emigration und Heimatlosigkeit bedeuteten. Wir fühlten uns wie im Sturm hin- und hergeschaukelt. Was das stürmische Leben einer Emigrantin kennzeichnete und was weibliche Eigenständigkeit kostete, in diesem Punkt waren wir Schicksalsgenossinnen.

„Wenn ich deutsch spreche, ermüde ich schnell. Geht es dir auch so?“ sagte sie, schenkte mir ihr Buch „Mutterzunge“ und schrieb als Widmung „Für meine Schwester“. Ihr Zimmer am Fürstenwall war eine Schatzkammer. Eine Entdeckungsreise ins Innere der Künstlerin, wert in der „documenta“ ausgestellt zu werden. Plakate, Postkarten, Pinwände mit Fotos aus allen Lebensphasen, die minutiös hintereinander genäht eine Lebensgeschichte erzählen. Schauspielgarderobe mit Bauchtanzkostümen, Schals in allen Farben des Regenbogens und Pelze. Bilder byzantinischer Kunst und islamischer Kalligraphie, mehrere Porträtserien von Van Gogh und Shakespeare, Filmschauspielern, Ex-Geliebten, Zettel mit Gedankenblitzen, Schattenfiguren.

Sie hatte in Frankfurt ihr Stück „Karagöz in Alemania“ (Schwarzauge in Alamania) inszeniert, eine Schattenfigur, die den Gastarbeiter mit seinem Esel symbolisiert. Ich wäre in ihrem Fauteuil versunken liegen geblieben, aber sie sagte: „Komm gehen wir raus!“ und setzte eine Schirmmütze auf statt der Baskenmütze.

Vor dem Schaufenster eines Brotladens blieben wir stehen und sahen uns die Leckereien an: Brezeln, Berliner, Baumkuchen. Der Laden befand sich nicht in der Berliner Stresemann-Straße, sondern in der Düsseldorfer Corneliusstraße. „Die backen selbst, das Brot ist frisch“, sagte sie, „komm lass uns hineingehen. Alalim, yiyelim.“

„Alalim, yiyelim“, wiederholte ich. Alalim, yiyelim von „Keloglan“’s Märchenwelt, das wir gemeinsam auf der Bühne für Jugendliche gespielt hatten. Die Bäckerin stand blitzblank vor uns und fragte: „Was wünschen Sie, bitte?“ „Söyle, ne istiyorsun? Sag, was möchtest du?“ und als ich mich anschickte, der Frau das Brötchen zu zeigen, meinte meine Freundin: „Nicht berühren, sonst wird sie schimpfen. Die kennt die Sinnlichkeit des Betastens nicht. Sie war nie im Bazar.“

Wir gingen dann zum Schuster am Fürstenplatz. Der Laden gehört einem Marokkaner. Sie ließ ihre Ledertasche, die sich häutete und überall brüchig war, weil sie tausendfach genäht war, noch einmal nähen und rauchte eine Zigarette mit dem Schuster. Von dem Perser an der Ecke des Platzes kauften wir Schafskäse, Oliven und Pistazien. „Gute Preise“, sagte sie. „Der Laden wird aber schließen. Siehst du, der Mann jagt Fliegen!“ und sie schleppte mich zum Markt am Karlsplatz, den sie besonders liebte. Die Marktfrauen grüßten sie, als würden sie sie seit ihrer Kindheit kennen. Sie kaufte Feigen und Datteln, gab mir die Hälfte zum Mitnehmen, und an der anderen Hälfte naschten wir in den engen Gassen der Altstadt. Ich vernaschte die Feigen und spürte einen warmen Strom fließen.

Wenn der Himmel sich verfärbte, dann gingen wir stromaufwärts spazieren. Bei mir wurde für saubere Luft gesorgt. „Wenn ich zu dir komme, dann ist es, als mache ich eine Kur. Du rauchst nicht, dann rauche ich auch nicht. Du trinkst nicht, dann trinke ich auch nicht. Du wanderst gerne, dann wandere ich gerne mit dir. Das ist Regeneration und Verjüngung zugleich.“ Gemeinsam sahen wir uns den Rhein an, den Rhein im Nebel, Rhein im Sturm, im Schnee, Rhein bei Regen, Rhein mit Hochwasser, Rheindamm überflutet, Rhein im Frühling und im Sommer. Der Rhein zu allen Tageszeiten, in allen Jahreszeiten, in allen Lichtfarben und allen Schattenfarben.

Waren wir sonntags in der Nähe eines Trödelmarktes, dann stöberten wir nach Hüten, in der Hoffnung den alten spanischen Hut und die Baskenmütze wiederzufinden. Keine Nostalgie trieb uns, eher eine Art von Rückbesinnung auf Kindheit und Jugend. Sie suchte nach Laurel und Hardy und fand sie nicht. Kaufte dann ein Karussell mit goldenen Vögeln und ließ sie über unseren Köpfen kreisen.

Eines Tages fand ich auch einen spanischen Hut, nicht den gleichen, aber einen ähnlichen und ich freute mich darüber, als kehre der Frühling unseres Studiums zurück. Ich ließ ihn wieder über meinem Kopf schweben. Was mit der roten Baskenmütze passiert ist, weiß niemand. Meine Freundin trägt, wie vor 30 Jahren, schwarze Hosen, schwarze Pullis und ihre Ledertasche, die vor Brüchigkeit Schuppen gekriegt hat. Schlichtheit und das Schwarz der Existentialisten sind ihre unveränderlichen Kennzeichen. In der Schauspielschule waren wir unzertrennliche Zwillinge, beinahe täglich zusammen. Wir klopften an die Türen derselben Redaktionen von Cagaloglu, nahmen an derselben Realität teil, träumten von derselben Revolution. A propos rote Baskenmütze erzählte sie mir, dass ein Intellektueller ihr damals gesagt habe: „Du siehst aus wie eine femme fatale!“

Rot in all seinen Variationen blieb unser Thema. Wenn die Kaufhäuser ihre Schleuderpreise bekanntgaben, gingen wir, solange Mutter und Vater lebten, Mitbringsel für die Sommerferien zu kaufen. „Meine Mutter“, sagte sie mir, „möchte, dass ich Rot trage.“ „Sie hat recht“, bestätigte ich, „wann werden wir uns Rot anziehen, wann, wenn nicht jetzt?“ Unsere Hosen machten einen absichtlich ungepflegten Eindruck. Sich aufzuputzen, das wäre bürgerliche Konvention. Der Sturm hatte uns durchgeschüttelt, sie mehr als mich. Plötzlich dachten wir an die Männlichkeit, die wir ein Vierteljahrhundert lang in uns erlebt hatten, und an die Weiblichkeit, die zu kurz gekommen war. Die Freundin kaufte an diesem Tag ein rotes Kleid. Aber ich glaube, das rote Kleid hat sie niemals angezogen. Paradiesvögel waren wir nur im Tanzstudio in der Minoritenstraße. Mit seinen operettenhaften Säulen und seiner kitschigen Farbenpracht aus 1001 Nacht schützte uns das Studio vor dem Sturm. In seinem Hafen konnten wir Schmetterlinge, Schwerttänzerinnen und verschleierte Frauen vom Nil sein. Im mittleren Raum, der einem türkischen Bad ähnlich war, tranken wir Tee in schlanken Tassen und schäkerten mit halbnackten Schönheiten. Probierten Kostüme an und schlüpften in Rollen. Das Lustgefühl schärfte sich so, dass wir Angst bekamen, so als ob wir von verbotenen Früchten kosten würden. In den langen Nächten träumten wir von selbstgedrehten Filmen: Szenen aus dem Leben, eine Schauspielerin in der Rolle der Hure sitzend und trinkend in Ankara und Potsdam aus einem Glas mit den Hurenmädchen, die vom Baum der Erkenntnis gegessen haben.

Meinen Geburtstag feierten wir bei ihr. Zu zweit. Geburtstag heißt Bilanz ziehen. Viele von meinen Träumen hatten sich als Illusion erwiesen. Ich hatte das Schreiben stürmisch in Angriff genommen, mir ein Ziel gesetzt und es nicht erreicht. Meine Freundin versuchte mich zu zerstreuen. Sie kochte in ihrer Bad-Küche ein saftiges Hähnchen mit Porree und Karotten. Wir aßen „alalim, yiyelim“ und tranken dazu „alalim, yiyelim, icelim.“ Als ich sie bat, mir die Videoaufnahme von der Bachmann-Preis-Verleihung zu zeigen, sagte sie: „Ich werde inzwischen das Geschirr abspülen.“ Mich mit der Bachmann-Preis-Jury allein zu lassen, war vielleicht ein rücksichtsvolles Hinwegsehen von dem, was in der Seele der anderen passiert. Klagenfurter Straßen. Das Bachmannsche Haus. Die Kandidaten. Die Kulissen. Die Lesungen. Die Wahl. Die wohl vertraute Atmosphäre meiner Niederlagen. Als die Preisverleihung an die Reihe kam, rieselte es in mir, ich stürzte vom Felsen. Die Lawine rollte über mich hinweg. Während der Bootsfahrt auf dem Wörther See konnte ich wieder meine Seele baumeln lassen und neue Fäden knüpfen an das verlorene Gefühl zur Literatur.

Nach ihren ersten Erfolgen wurde meine Freundin die Lobende. Lob war sowohl in meiner Kindheit als auch in meinen revolutionären Jahren verpönt. Loben schmeichelte der Eitelkeit. Loben und Gelobtwerden waren tabu. Dafür waren Kritik und Selbstkritik gefragt. Sie lobte meine griechischen Gesichtszüge, verglich die Form meines Körpers mit den antiken Skulpturen und betonte meine Herkunft von den Dinosauriern. Was meinte sie? War es ein Kompliment oder eine Kritik? Warum sollte ich ein Dinosaurer sein? Das Wort schuf Distanz. Ihre Lobworte überraschten mich, ich staunte. Was ich hörte, mein Kosmopolitismus von Geburt, meine Mehrsprachigkeit waren durchaus natürliche Dinge, die mir aber meine Mutter oder meine Männer in dieser Weise nie gesagt hatten. Wie kam sie zu diesen Ausdrücken? Hatte sie immer schon so gesprochen und ich es nicht gemerkt? Sprachen wir früher so mit unseren Müttern und Großmüttern? Sie meinte: Ja. Das Türkische, mit dem ich in der Schrift und auf der Bühne so spielerisch umging, lag zurück. Weit zurück. Und die kurzen Aufenthalte genügten nicht zur Erneuerung der Sprache, zum Überschreiten der traditionellen Barrieren. Langsam verstand ich die Bildlichkeit ihrer Sprache. Ihre Wort- und Denkspiele. Der Übergang von verschiedenen Realitätsebenen. Die Vielschichtigkeit ihrer Aussagen. Ihre Sprachexperimente. Überhaupt merkte ich, dass die Autorin anders sprach als andere. Sie sah nicht nur eine andere Wirklichkeit als ich, sie sah auch anders. Durch die Begleitung der Freundin in ihrem Alltag lernte ich im Spiegelbild und konnte aus ihrer Entwicklung neue Kräfte schöpfen.

Im Kino „Bambi“ sahen wir uns „Yasemin“ an. Ich schaute mal auf die Leinwand, mal auf meine Freundin. Sie spielte die Mutter, hätte aber gern auch die Großmutter gespielt. Im Film trug sie meine alte schwarze Bluse. Die Nähte waren geplatzt und ich hatte sie über Sommer nach Istanbul mitgenommen zu meinen reichen Verwandten. Nach dem Frühstück konnte ich auf dem Balkon lange sitzen, mit meiner Kusine plaudern und tun, wozu ich in Düsseldorf keine Zeit hatte, stopfen und nähen. „Warum stopfst du, man sieht die Nähte. Wirf sie doch weg!“ sagte meine Kusine. „Du wirfst nichts weg. Lerne wegzuwerfen!“ Ich warf die Bluse nicht weg, denn sie hatte einen außergewöhnlichen Schnitt. Als ich die Geschichte meiner Freundin erzählte, sagte sie: „Die Bluse gefällt mir. Die Rolle der armen Verwandten weniger.“ Und jetzt saßen wir im Kinosaal, und freuten uns über die türkische Julia und den deutschen Romeo, die wenn sie noch leben, zu einem Baum verwachsen sind. Wenn die Freundin „meine Tochter“ sagte, meinte sie die Darstellerin der Yasemin. „Ich bin gern bei meiner Tochter in München.“ Die Tochter, das war eine Anspielung auf unsere gemeinsame Kinderlosigkeit.

Ihren Roman „Das Leben ist eine Karawanserei“ las sie mir auf dem Bett in meinem Mansardenzimmerchen in einem Zug vor, als hätte sie ihn in einem Zug geschrieben statt in zehn Jahren. Schon dort schuf sie eine fliegende Welt. Nicht im engeren Sinne ein osttürkisches Städtchen, sondern fliegende Gestalten. Bald musste sie selbst in die große Welt fliegen. Flug nach New York, Flug nach Chicago, Flug nach Barcelona, Flug nach Oslo, sie, die Angst vorm Fliegen hatte.

In Paris sah ich sie im Schminkraum von Sarah Bernhardt, als man die Maske für die alte Dienerin, das Großmütterchen aus einer Pariser Vorstadt, vorbereitete. Das Haar wurde weiß gepudert. Die Falten geschärft für „Die drei Schwestern“. Ihr chaplinesker Humor und ihr Scharfsinn brachten die Leute zum Lachen. Die Türkin aus Malatya war über die Regieassistenz bei Brechtschülern in der DDR Kosmopolitin aus eigener Kraft geworden. In Paris war ich eher in der Welt der Ost-Juden, bei den Chassidim zuhause als im Schauspielhaus. Das war dem Anschein nach weit weg von dem, was mich in den Studentenjahren bewegte.

In zahlreichen Lesungen saß ich im Publikum und repräsentierte die Schwester und die Familie. Beim wiederholten Zuhören merkte ich, dass sie die Ereignisse, die weit zurücklagen, mit einer Lebendigkeit beschrieb, als würde sie durch ein Fernrohr schauen. Die Kritiker stellten fest, dass sie ein neues Kapitel deutschsprachiger Literatur schrieb. Die Preise, die die Freundin bekam, hatten ihren Preis. Sie musste mit den Zügen Deutschland durchqueren, von einer Lesung zu nächsten. Anstrengung, Müdigkeit, Verstopfung. Das war schwer, aber meine Freundin sprang über die Hürden, sang ganz bewusst „I can’t get no satisfaction“. Sagte öfters „OK“ und „you know“, trug eine Feder in ihrer alten Ledertasche und komponierte in Zügen das kollektive Schicksal im Frauenwonaym. Ihre Offenheit und Kühnheit über sexuelle Tabus hinwegzugehen, wie sie es in „Die Brücke vom Goldenen Horn“ tut, fand ich schon in der Istanbuler Schauspielschule faszinierend. Und da jetzt die Autorin als Gelobte an der Reihe ist, will ich sagen: Sie war schon damals ein Mensch, der sich nicht selbst betrügt, der alles aussprach. Sie brach als erste auf zu der tabuisierten Entdeckungsreise zu Körper und Seele und wurde mir ein Vorbild der Sinnlichkeit. Die Geschichten über die Deflorationen, die geheimnisvollen Diamanten spiegeln das sexuelle Verlangen und die Angst der jungen Frauen meiner Generation. Beim Poesie- und Politikmachen vertraute sie ebenfalls auf ihre weiblichen Kräfte. Jede ihrer Zeilen bestätigt, dass sie Berge von Männermüll abgeschüttelt hat. Gleichzeitig bleibt sie zart, zarter als die zarteste Seide, in ihrer Beschreibung, wie sich die Liebe zu einem Kokon verwandelt.

Der Stoff, aus dem dieser Kokon wuchs, ist die Stadt Bursa. Das grüne seidene Bursa. Hinter dem Schleier steht die Botschaft von der Befreiung der Frau. Weil die Dichterin aus Malatya-Bursa-Istanbul sich selbst erschaffen hat, ist sie ihrer Zeit voraus und wird die Enge der Gegenwart sprengen. Die eine macht den Anfang, die anderen werden es fortsetzen.

Wegen Post und Paketen vertraute mir die Dichterin, die ständig unterwegs war, ihre Schlüssel an. Wenn sie nach Düsseldorf kam, waren wir wieder zwei Schulschwänzerinnen. Ich hakte mich unter ihren Arm und wir bekamen Flügel, wir machten Pirouetten in der Luft und flogen von der Oberkasseler Brücke direkt zur Goldenen Brücke von Istanbul, während ich die Zauberformel sprach: „Meine Freundin ist eine Feder, eine Feder ist ein Flügel, meine Freundin ist eine Feder und ein Flügel in der Fremde.“ In der Fremde sahen wir uns die leuchtenden Farben der Goldenen Jahre an, unseren Zuckerprofessor, Allah rahmet eylesin, unsere armen Eltern, die wir terrorisierten und die Männer unserer Vollmondnächte.

Als wir auf die Realität und Alptraumhaftigkeit der politischen Ereignisse der 68er Jahre, der brutalen Konfrontation zwischen Studenten und der Polizei in der Türkei zu sprechen kamen, sagte sie: „Icim kanayarak yazdim“, und meinte damit „beim Schreiben verblutete ich nach innen“. Wie unter den Dolchstichen der Charlotte Corday beschrieb sie die Geschehnisse unserer Generation, die so früh verbluten musste. Wenn ich dann allein durch die Trödelmärkte auf der Suche nach Büchern schlenderte, dachte ich an unsere Schlüsselerlebnisse. Ich kehrte zurück zu den Raritäten von Gestern, Schallplatten- und Bücherkartons und dachte in der Stille, dass die Bücher von heute mit diesem gebrochenen Deutsch aus der Feder fremder Frauen morgen als Raritäten gesucht werden, da dieser gebrochene Akzent saftig auf der Zunge zergeht.

Sylvester verbrachte die Dichterschauspielerin bei Zadek und ich bei Zaddiks. Und so kam es, dass ich dank meines spanischen Hutes die fliegende Welt zu schätzen begann, bevor ich fliegen lernte. Ich lernte aus der Theorie, sie aus der Praxis. Auch ohne die Baskenmütze bleibt meine Freundin Rebellin, Repräsentantin und Schlüsselfigur einer Generation, und wenn sie heute am „Place de la Bastille“ wohnt, liegen noch immer in meiner Schublade ihre Schlüssel zu den Sternen.

[Der Text stammt aus dem Vorlass der Autorin in Form eines Typoskripts, deponiert im Frauen-Kultur-Archiv der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf]

 

Zur Autorin

Lore Schaumann: Diana Canetti. Lehr- und Wanderjahre in zwei Kulturen

Stellen wir uns vor, wir sollten ein Buch in türkischer Sprache schreiben, nach einigen Studienjahren, gewiß, und nachdem wir uns in dem fremden Kulturkreis umgetan hätten, ohne aber doch einen Zustand von Anderssein jemals ganz überwinden zu können. Kaum denkbar, meinen wir? Diana Canetti, aus Istanbul kommend und deutsche Romane schreibend, zeigt am umgekehrten Fall, daß es möglich ist.

Sie hat sich allerdings westliche Denkformen nicht erst als Erwachsene aneignen müssen - Kind zweier Minderheiten und mehrerer Sprachtraditionen, lebendes Beispiel für die Brückenfunktion des alten Konstantinopel zwischen Abendland und Morgenland. Die Mutter stammte aus einer jener griechisch-orthodoxen Familien, die 1453 nach der Eroberung durch die Türken in Byzanz geblieben waren. Dort hatten die Vorfahren des Vaters, spanische Juden, von der Inquisition verjagt, im gleichen 15. Jahrhundert Schutz gefunden.

„Mit meinem Vater sprach ich das alte Spanisch, mit meiner Mutter griechisch, in der Volksschule türkisch, im Kloster machte ich das Abitur in französischer Sprache“, schreibt Diana Canetti - damals eine oft verzweifelte Schülerin, denn „ich war ein Kind, das sich in keiner Sprache richtig ausdrücken konnte“. Als einzige Nicht-Mohammedanerin hatte sie sich schon in der Volksschule ans Anderssein gewöhnt, ein Anderssein, das wohl verloren macht, aber auch Widerstandskräfte weckt.

Schwieriger war das äußerlich glanzvolle Elternhaus mit seinem Zank und mit seiner Unvereinbarkeit der Charaktere, die schließlich zu Auflösung und allgemeiner Trennung führte. In ihrem zweiten Roman zeigt Diana Canetti einen Ausschnitt aus dem Leben dieser verwöhnten Bürgerschicht: Den Spielclub „Cercle d’Orient“, in dem die schöne stolze Mutter mit anderen Damen der Gesellschaft ihre Nachmittage und Abende verbringt, während der schwer arbeitende Vater das Geld herbeischafft. Aber auch er zwängt sich abends in den Smoking, lebenstoll, versnobt und auf möglichst genaues Nachahmen westlicher Bräuche bedacht.

Die beiden Kinder werden als Belastung empfunden, es gibt kein Nest, aus dem sie herausfallen könnten. So wandert der Sohn später nach Südamerika aus. Und auch Diana, die manchmal auf dem breiten Autositz schlafend die Eltern erwartet hat, rebelliert früh, entdeckt ihre Härte und Zähigkeit - wenn es denn erlaubt ist, die Leila der Romane mit Diana gleichzusetzen. Aber diese beiden Bücher sind so offenkundig autobiografisch, daß die Abweichungen wahrscheinlich minimal sind.

Etwas, woran wir uns halten können, ist das vorangestellte Freud-Zitat, in dem es heißt: „Es war mir längst klargeworden, daß ein großes Stück der Lust am Reisen in der Erfüllung dieser frühen Wünsche besteht, also in der Unzufriedenheit mit Haus und Familie wurzelt.“ Der Koffer mit den Initialen D. C. auf dem Umschlag des ersten ist ein Symbol für die Unruhe, die beide Bücher erfüllt und sie nachträglich als eines erscheinen läßt, obwohl das frühere spontan und ohne Glätte, das zweite stilistisch ungleich besser ist.

Fort! Ich bin geflohen, ich mußte weg, ich hielt es nicht mehr aus - lauter Aufbrüche, lauter sprachliche Chiffren für Fluchtbewegungen, die schon damals, gewiß aber im Rückblick, als Wege auf der Suche nach sich selbst begriffen werden. Bodenlose Wege zuweilen, sie erinnern an Mutproben, an Absprünge aus den Wolken, bei denen man nicht weiß, ob der Schirm sich entfalten wird. Der Aufbruch ins deutsche Sprachgebiet hat etwas Tollkühnes, absolut Irrationales. Warum ging Diana Canetti nicht nach Frankreich, in ein Land, dessen Sprache sie vorzüglich beherrschte? Das sei sie schon oft gefragt worden. Sie habe aber mit einem Stipendium des Österreichischen Unterrichtsministeriums gerechnet, und sie habe geglaubt, am Reinhardt-Seminar Theaterschriftstellerei lernen zu können.

Als beide Voraussetzungen sich als falsch erweisen, bleibt sie dennoch in Wien, wieder in der Position des Außenseiters, eine junge Türkin, die kein Deutsch kann. Sie nimmt sich vor, „das Lernen sollte für mich nicht ein Nebenzweck meines Lebens, sondern das Leben selbst sein“. In dieser Haltung lebenslangen Lernens stimmt sie exakt mit dem großen, gleichfalls spaniolischen, jedoch nicht mit ihr verwandten Namensvetter Elias Canetti überein.

Die Aufnahmeprüfung am Schauspielseminar besteht sie durch die in Istanbul gelernte Ausdruckskunst. Sie nimmt Unterkünfte und Arbeiten jeglicher Art auf sich, am liebsten im Weichbild der Bühne: „Ich kam jeden Abend um 19 Uhr 30. Schminken, Frisieren und Ankleiden dauerten maximal 20 Minuten. Dann nahm ich einen Bleistift und mein Textbuch, ging hinter die Bühne und saß neben dem Feuerwehrmann. Auf jeder Seite fand ich zwischen zwanzig und fünfzig Wörter, die ich nicht kannte. In meiner Freizeit - zwischen zwei Vorlesungen, während der Mittagspause oder in der Stadtbahn - schlug ich ständig in meinem Wörterbuch nach. Nach zwanzig Vorstellungen kannte ich das Stück fast auswendig.“

Diese wahnsinnige Anstrengung mit der deutschen Sprache hat Diana Canetti schließlich das Studium an der Universität ermöglicht. Dem Abitur auf Französisch folgt die theaterwissenschaftliche Doktorarbeit auf Deutsch - über ein türkisches Thema. Triumph der Zähigkeit, Triumph einer außerordentlichen Begabung. Diana Canetti hat dann für eine türkische Zeitung und für deutsche Rundfunkanstalten gearbeitet, Interviews mit Gastarbeitern und Theaterberichte gemacht und sich an Hörspielen versucht. Ein Theaterstück hat sie nicht geschrieben, doch ist ihr kein Bedauern darüber anzumerken. Warum auch - ihre Prosa drückt aus, was ihr wichtig ist: Die Verlassenheit des ausländischen Studenten in einer der großen Industriestädte, die trotzdem immer wieder durchbrechende Freude, jung und schön zu sein und die freien Beziehungen des Westens auszuprobieren. Ein Freund zeichnet ihr griechisch-minoisches Profil.

Gegen die schon in Istanbul erkannten sozialen Ungerechtigkeiten der Türkei wird leidenschaftlich Partei ergriffen, z. T. mit Hilfe und nach den Instruktionen eines revolutionären Landsmanns, der freilich in der Zweierbeziehung den weiblichen Partner genauso ausbeutet wie der Klassenfeind seine rechtlosen Bauern. Das Kapitel Leila und die Männer, Diana und die Männer steht noch deutlich unter dem Eindruck der neugewonnenen sexuellen Freiheit und hat etwas von einem weiblichen Leporello-Album. Daneben stehen einfühlend gezeichnete Kinderporträts: Nalan, die abgerissen und verängstigt am „Cercle d’Orient“ erscheint, weil ihre Mutter sie über dem Glücksspiel vergessen hat. Gökperi, das scheue, elternlose Kind mit den blonden Zöpfen, das auf einer gemeinsamen Bahnfahrt zutraulich wird.

Immer wieder dieses Thema des einsamen Kindes, aber auch der einsamen, kinderlosen Frau. Diana Canetti hat es in einer (später verfilmten) Schauspielszene gestaltet, die für den qualvollen Geburtsakt ein Stück des eigenen Körpers, den Fuß, zum „Baby“ erhebt.

Der beschreibend anschaulich gemachte Vorgang völliger Entäußerung und die verständnislose Reaktion der Lehrer und Schüler am Reinhardt-Seminar rücken etwaige Vorstellungen über die „kulturell zurückgebliebene Türkei“ sehr wirkungsvoll zurecht: Die bessere Schauspielausbildung brachte Diana von Istanbul mit!

Jetzt wird der Koffer nur noch für Ferienreisen hervorgeholt. Das Gehäuse, das sie mit dem Dramaturgen Jürgen Fischer an der Oberkasseler Hansa-Allee bezogen hat, sieht nach Bleiben aus: Eine große, strahlend hell hergerichtete, nach Farbe duftende Altbauwohnung, ideal zum Arbeiten, Umherwandern, Gästehaben.

Drei Jahre Düsseldorf haben sie mit der Stadt befreundet. Ein interessanter Kreis umgibt sie. Im Schauspielhaus hat sie ein Gefühl der Zugehörigkeit, ohne dort angestellt zu sein. Was sie jedoch tut, und was ihr Freude macht, ist die freie Theaterarbeit mit einer Mädchen-Arbeitsgemeinschaft der Realschule Ackerstraße. Und drei Kurse an der Volkshochschule, über Musil und Saul Bellow - genug „Gruppe“, um gegen die einsame Arbeit am neuen Roman einen Ausgleich zu haben.

Sein Titel „Ein Mann von Kultur“ liegt seit langem fest, ihn fertig zustellen dürfte aber schwieriger sein als bei den Vorgängern, weil Diana Canetti nun nicht mehr einfach ihr Leben „abschreiben“ kann, sondern Erfahrenes und Erfundenes zusammenpassen muß. Sie kam als erste Schriftstellerin mit einer ganz klar umrissenen Detailfrage ins Literaturbüro und forderte Hilfe. Solange sie in Bewegung ist, erscheint sie als morgenländische Fee, die sehr genau weiß, was sie will. Aus ihrem schweigenden Gesicht spricht jahrtausendealte Trauer.

(Lore Schaumann in: Düsseldorf schreibt. 22 Autorenporträts, Düsseldorf: Triltsch Verlag, 1981, S. 30 - 32)

 

Pressestimmen

Zu: Pygmalion ohne Happy End (1995)

Ähnlich wie ein Sonnenstrahl. Diana Canetti las im Café der Johanneskirche

Der oft gestellten Frage nach Sinn und Nutzen von Kunst und Kultur ging auch die Autorin Diana Canetti nach – und bot eine Antwort mit ihrer autobiographischen Erzählung „Pygmalion ohne Happy End“. Im Rahmen der Autorenreihe „Literatur um halb fünf“ im Café der Johanneskirche, das jeweils am letzten Freitag eines Monats Lesungen anbietet, lernte die internationale Zuhörerschaft mit Diana Canetti eine interessante Persönlichkeit kennen.

Die promovierte Theaterwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin vereint als Person all das, wovon sie in ihren Geschichten erzählt und was man als „interkulturell“ bezeichnen kann. Aufgewachsen in Istanbul „in einem babylonischen Sprachgewirr“ - zu Hause wurde Griechisch, Türkisch, Spaniolisch und Französisch gesprochen - studierte sie Anglistik und verfaßte Erzählungen für eine türkische Zeitschrift. Ende der 60er ging Canetti nach Wien, um Theaterwissenschaften zu studieren. Heute lebt sie in Düsseldorf und schreibt unter anderem Hörspiele für den WDR und SDR, die immer das Thema „interkulturelle Beziehungen“ beleuchten.

Die Erzählung „Pygmalion ohne Happy End“ reiht sich ebenfalls in diesen Themenkreis ein, hat jedoch noch eine spezielle Note. So persönlich und sprachlich schlicht die literarische Erlebnisreise einer Studentin auf der Suche nach ihrer geistigen Welt anmutet, so hebt sie sich durch philosophisch-kluge Gedanken und kritische Selbstreflexion zugleich als eine Geschichte des allgemein Menschlichen hervor. Die junge Studentin ist nicht nur Türkin griechischer Abstammung mit jüdischem Glauben, im deutschen Sprachgebiet lebend auf der Suche nach ihrer persönlichen Kultur, sie ist auch der „in die Welt geworfene“ Mensch, der nicht nur sein Dasein fristet, sondern mit „unbändiger Neugier eine interessante Welt mit einem vollen Geistesleben“ kennenlernen will.

Dabei wird die begeisterungsfähige Studentin immer wieder mit provokativen Thesen ihres Professors konfrontiert, des Pygmalion, der sich mit ihr sein geistiges Abbild zu schaffen versucht. „Alles, was mit Kunst und Kultur zusammenhängt, ist Luxus“, warnt der lebenserfahrene Mentor. Doch die welterfahrene Studentin entgegnet schlicht: „Kultur streichelt unsere Sinne ähnlich wie ein Sonnenstrahl.“ Am Ende spürt sie, daß sie sich aus dem Bann Pygmalions lösen muß, und erkennt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch von Symbolen.“

(Renja Greis in: Rheinische Post, 27.01.1997)

Zu: Eine Art von Verrücktheit. Tagebuch einer Jugend (1972)

Sensible Verrücktheit. Ein neuer Name: Diana Canetti

„Heute will ich ein weiteres Mal neu beginnen.“ Dieser Satz steht zwar am Ende eines Buches, aber er könnte über jedem Kapitel, jedem Tag, jeder Stunde der Diana Canetti stehen. Ein neues (interessantes und schönes) Gesicht, ein neues, erfrischendes Buch: „Eine Art von Verrücktheit“. Da kommt eine junge Türkin, der Vater türkischer Jude, die Mutter Griechin, aufgewachsen in Istanbul, in einem Gemisch von Judentum, Orthodoxie, Islam und Katholizismus, und schreibt ein Buch über die Emanzipation junger Menschen.

Diana Canetti verbreitet keine Theorien, und selten erwähnt sie ihre marxistische Grundhaltung. Sie schreibt auf, wie sie nach Wien gekommen ist, dort Arbeit, Freunde und Leben gesucht hat. Streiflichter zeigen andere Stückchen Europa, zurückhaltend, erfahrend.

Diese Offenheit zum Leben, die begeisternde Lernbesessenheit und die Fähigkeit, körperlich zu denken und denkend zu handeln, spontan, ohne Rückversicherung, prallen natürlich im blassen Wien, an den blassen, doktrinären Schauspielschülern und -lehrern ab. Momentane Freundlichkeiten, kurze Liebschaften, viel Gerede und Ablehnung - eine eindrücklichere, für uns deprimierende Konfrontation lässt sich gegenwärtig schwer schreiben. Keine lauten Töne und Proteste; D. C. setzt an ihre Stelle den Versuch, ein, mehrere Gegenüber zu finden, darauf einzugehen, nachzudenken über ihre eigene zeitweilige Einsamkeit.

Da sind keine Bindungen, weil es Bindungen gibt. Sondern menschliche Verbindlichkeiten. Solche, die sich verändern, die plötzlich auftauchen und plötzlich sterben. Da ist kein Theoretisieren über die Emanzipation von Geschlechtern, sondern hier wird Emanzipation von Menschen gelebt als Selbstverständlichkeit.

Wenn die Schauspielschülerin D. C. im Wiener Reinhardt-Seminar aus ihrer vitalen Sicht eine Geburt, eine Mutter mit einem toten Kind, den Tod eines Kindes nicht nur zu „spielen“, sondern auf der Bühne ihren Mitschülern vorzuleben sucht, bekommt sie Verweise: ihre Lehrerin findet das obszön, die Mitschüler „würden sich schämen“, und „sowas gehört sich nicht“ usw.

D. C. wird nicht nur von widerlichen oder anziehenden Umständen gefordert. Sie will nicht einfach „ihr Fleisch verkaufen oder verschenken“. Sie sucht Wechselwirkungen, Zärtlichkeit, Liebe, Freundschaft. Uralte Wünsche, die alle unter Bergen von Konventionen, Moden, Religionen, Doktrinen, Trägheit und Machtspielen vergraben sind. Und von denen alle reden. Von jeher.

Diana Canetti schreibt sich, sie denkt sich, sie lebt sich. Das lässt sich einfach sagen. Aber ich finde, sie zeigt zumindest mit ihrem Buch, dass Einsamkeit durchaus schöpferisch, und die Strecke zum andern sehr kurz und unmittelbar sein kann. Diese Art von Verrücktheit löst Komplexe auf. Sie ist viel mehr als ein „Tagebuch einer Jugend“.

(Beat Brechbühl in: Züricher Weltwoche, 7.12.1972)

Verantwortlichkeit: