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Ruth Willigalla: Gerresheimer Geschichten (1993)

Nur eine Lehrerin

Ich weiß nicht mehr, ob ich am ersten Schultag eine Schultüte hatte. Auch von den anderen Kindern habe ich keine Erinnerung mehr daran. Aber wie meine erste Lehrerin war, Fräulein Fölster, weiß ich genau. Nach den ersten Schulstunden verabschiedete sie jedes Kind mit Handdruck, und sie wußte jeden einzelnen Namen von uns.

Nun waren in unserer Klasse die Kinder zumeist aus Arbeiterfamilien. Das konnte man untrüglich daran sehen, daß ab November, trotz Wind und Wetter, einige Kinder, die „von der Hütte“, mit nackten Füßen kamen, triefende Näs’chen und verfrorene Hände und Füße hatten.

Es war unsere Lehrerin, die die Familien aufsuchte, um zu erfahren, warum Anne oder Hilde oder der Walter keine Schuhe anhatten oder kein Butterbrot für die Pause mitbrachten.

„Eine staatse Frau“ hatte ein Nachbar Fräulein Fölster genannt. Sie ging groß und sehr aufrecht über den Schulhof und hatte die Augen überall „bei ihren Kindern“. Fräulein Fölster hatte den für uns fremden Namen Nathalie. Na-ta-li-e, sagten wir und liebten sie alle sehr.

Und welche Mutter bei uns im unteren Gerresheim hatte schon eine Stadttasche aus Leder (in die immer unsere Hefte zur Korrektur wanderten) und dazu passende Schuhe und Handschuhe? Und doch nahm gerade Fräulein Fölster das kleine Mädchen aus der Klasse an die Hand und kaufte ihm auf der Heyestraße ein Paar Schuhe. Oder gab dem Jungen für die Rotznase ihr Taschentuch, damit der Ärmel vom Pullover keinen Silberstreif bekam. Und sie gab ihr Pausenbrot an das Kind, das keines mitgebracht hatte.

In der Winterzeit begann jeder Morgen mit Märchenerzählen. Natürlich nur immer ein Kapitel oder die Hälfte davon. Aber besonders an den grauen Tagen las sie die schönsten Märchen von Feen und Elfen vor, sie brachte die Gestalten mit ihrer Stimme zum Leben. Nachdem sie unsere Phantasie in Schwung gebracht hatte, blieben sogar die Kinder in der Klasse, die vorher laufen gehen wollten, um weiter an Mutters Rockzipfel zu hängen. Zumindest in den ersten Schulwochen.

Eigentlich war unsere Klasse und damit die Schule unser zweites Zuhause. Am Nikolaustag zum Beispiel kamen wir Kinder in unsere Klasse und blieben stumm stehen: Auf dem Platz eines jeden Kindes in der Schulbank – und wir waren ja immer zu fünft – lag eine rote Serviette mit einem blanken Apfel, wie rote Backen, darauf. Und weil Adventszeit war, stand auch für jedes Kind eine eigene Kerze dort. Die durfte dann für die Märchen-Zeit brennen. Eine Serviette! Wer in unserer Klasse kannte die schon! Meine Großmutter in Flingern hatte immer schöne weiße und gestärkte Servietten auf dem Mittagtisch liegen. Aber Flingern war weit, und hier lag eine rote! Jedes Kind fand an seinem Geburtstag eine kleine Blume und ein kleines Geschenk. Einmal hatte ich an einem Sonntag Geburtstag. Da war ich richtig traurig.

Die Jahreszeiten erfuhren wir mit Fräulein Fölster auf eine eigene Art. Die lange Klassenwand neben der Türe wurde zum Ausdruck dessen, was das Jahr uns schenkte. Alle Kinder waren daran beteiligt. Im Frühling malten wir alle Bäume und Blüten, Vögel und Schmetterlinge. Alles wurde ausgeschnitten und auf die Rückseite einer Tapete geklebt, die dann ein langes Wandbild wurde. Die Tapeten erfragte sie von Nobbe, der Tapetenfabrik in der Webereistraße. Auch Pferde und Katzen und Hunde sprangen darauf herum, und es gab kein Kind in der Klasse, das nicht malen und ausschneiden und aufkleben konnte. Der Sommer und Herbst zeigte Blumen, Obst und Blätter. Kam St. Martin heran, zog der schon lange durch unsere Klasse, bevor es so weit war. Wir übten alle die bekannten Martinslieder wieder ein, damit wir sie beim Martinszug auch mitsingen konnten. Und auf unserer Klassenwand prangte der lange Martinszug mit den erwartungsvollen Kindern, daß wir dachten, wir seien das selbst.

Ich weiß, daß meiner Mutter jeder Pfennig weh tat, den ich in die Schule mitbringen mußte. Aber letztlich hatte ich dann doch Malstifte und Malblock und das Pergamentpapier für die Fackel genauso wie Stock und Kerze. Probesingen mit der Fackel war auch in der Klasse. Und wir wußten genau, daß wir in Dreier-Reihen im Zug sein mußten. Und auf die Lehrerinnen und die Mütter zu hören hatten, die uns im echten Zug begleiteten.

Eines Tages mußte ich 50 Pfennig mit in die Schule bringen. Für einen Besuch des Düsseldorfer Opernhauses. „Hänsel und Gretel“ heißt die Oper, sagte ich meiner Mutter. 50 Pfennig und das 1938! Viele Kinder hätten dieses Geld nie von zu Hause bekommen, und doch fuhren letztlich alle Kinder erwartungsvoll „in die Stadt“ mit. Sauber, mit Schuhen an den Füßen und ohne Rotznase. Manche Kinder hatten immer eine Rotznase, wenn die auch nicht lief. Die Nase stand vom vielen Hochwischen schon ganz hoch mit der Spitze und war immer rot.

Ich glaube auch „Ingelein“ Zeitz’ Eltern hatten Anteil daran, daß alle mitfuhren, denn Fräulein Fölster war des öfteren in deren Gaststätte „Zum deutschen Kaiser“ und sprach mit Frau Zeitz. Die war sehr schick damals, hatte ein schwarzes Kostüm und einen Silberfuchs und war geschminkt. Obwohl das eine ‚deutsche Frau’ eigentlich nicht tun sollte. Aber sie sah schön aus mit der rosa Puderhaut und den roten Schminke-Lippen. Mutter rötete ihre Wangen immer mit rotem Krepppapier, das sie mit Spucke anfeuchtete und dann auf den Wangen verrieb. Sie machte das vor dem Spiegel heimlich, ich habe es aber gesehen.

Die Oper, ein komischer Ort. Ich saß in der ersten Reihe und sah in den Orchestergraben, und ich fühlte den rot gepolsterten Sitz. Wir waren eine Stunde eher dort und durften uns alles ansehen. Dann kamen die Musiker. Ich hörte, wie sie ihre Instrumente stimmten und bekam Gänsehaut. Natürlich mußten wir hinterher einen kleinen Aufsatz schreiben, wie es uns gefallen hat. Und Fräulein Fölster hat uns lange von der Musik mit schönen Worten erzählt.

„Die Luft ist so blau und das Tal ist so grün. Wir bitten Fräulein Fölster spazieren zu gehen“. Das sangen wir, wenn der Himmel himmelblau war und die Sonne besonders schön schien. Bei solchem Sonnenschein lockte uns „unser Wald“. Sie hatte Verständnis und wußte, daß wir wie die Ameisen unruhig waren. So holte Fräulein Fölster beim Rektor die Erlaubnis ein, „Naturkunde“ und „Heimatkunde“ im Wald zu betreiben.

Daß ich heute eine Kastanie von einer Erle, eine amerikanische von einer deutschen Eiche unterscheiden kann, daß Blindschleichen keine gefährlichen Schlangen sind und daß man sie richtig anfassen kann, das habe ich ihr zu verdanken. Sie hat uns immer alles in ihrer Art vermittelt. Auch wenn sie bei der Aufforderung von ihrem Kollegen, dem Lehrer Poppe, uns mit „Heil Hitler“ zu begrüßen, sagte: „Ach, Herr Kollege. Zuerst einmal wünsch’ ich meinen Kindern den Guten Morgen“. Und sie rief laut und herzhaft als echte Düsseldorferin: „Juten Morjen, Kinder!“

Förß of Forß

Außer Fräulein Fölster hatte ich als Lehrerin noch Fräulein Tanz und Fräulein Burghartz. Fräulein Tanz war klein und schmal, mit einem kleinen Knützchen und strengen Haaren. Manches Mal machte sich eine Strähne los. Sie sah dann viel jünger aus. Aber immer hat sie schnell eine Haarklemme genommen und die Haare wieder festgesteckt. Fräulein Burghartz war älter und trug meist braune Kleider aus Seide. Sie hatte ein größeres Knützchen. Und – sie hatte Lachfalten. Aber wir haben sie selten lachen gesehen.

Fräulein Tanz war evangelisch, durfte das aber nicht sein. Und mußte immer „Heil Hitler“ am Morgen sagen. Sie hätte gerne mit uns gebetet, durfte das aber nicht. Dafür hat sie dann heimlich die Hände gefaltet. Hinter der Tafel. Wenn die Sonne schien, haben wir das am Schatten an der Wand gesehen, wie sie ihre schmalen Hände faltete. Wir zu Hause haben nicht gebetet, wohl aber der Opa in Flingern. Aber wenn Fräulein Tanz mit uns gebetet hätte, hätte sich vielleicht die Rechenarbeit ein wenig hinausgezögert.

Wir sagten immer, sie hat ein Mausegesicht, und giffelten hinter der vorgehaltenen Hand über sie. Wenn sie uns aber in Erdkunde von anderen Ländern erzählte, hatte sie ganz leuchtende Augen. Auch von Rußland, obwohl da unser Feind ist. Sie sprach „von der weiten Tundra“, von den Schneehasen mit dem weißen Fell und den Rentieren, und sie hatte ein ganz anderes Gesicht. Bei ihr konnte man sich das alles ganz richtig vorstellen.

Auch wenn Fräulein Tanz uns Geschichte eingetrichtert hat. „Die Zahlen muß man wissen“, sagte sie. Das Merken der Zahlen war schlimm; wenn sie dann Geschichte erzählt hat, war das immer schön. Aber meistens haben die in der Geschichte Krieg gemacht, einmal sogar 30 Jahre lang. „Sagt mal alle ‚Förß of Forß“, sagte Fräulein Tanz eines Tages. „Das ist englisch“, sagte sie auch und, daß das eine internationale Sprache ist, mit der sich alle Menschen verständigen können, auf der ganzen Welt. Und sie drückte dabei ihre Zunge gegen die Zähne, das klang wie „Heiss“. Aber mehr durfte sie uns auch nicht sagen. Weil die Engländer unsere Feinde sind. Lehrer Poppe meinte, als er Fräulein Tanz einmal bei „Förß of Forß“ erwischte, die würden noch alle Deutsch lernen.

Wenn Gesang auf dem Stundenplan stand, wußten wir schon, wie Fräulein Tanz uns den erklärte. „Schohon die Ahabendglohocken klahangen“. Sie wedelte dann mit den Händen und hörte jeden falschen Ton. Aber sie hat das immer wieder mit uns probiert, bis es sich endlich schön anhörte.

Wenn Fräulein Burghartz biblische Geschichte erzählte, sprach sie auch von den Juden. Aber dann hörte sich das ganz anders an als im Radio oder man in der Zeitung lesen konnte, oder was der Herr Goebbels sagte.

Fräulein Burghartz liebte die französische Sprache. Aber die Franzosen waren auch unsere „Feinde“. Eigentlich durfte man gar nicht französisch sprechen. Unser Fräulein trichterte uns aber doch ein: „Liberté – Egalité – Fraternité“ – und guckte dabei so lange und beschwörend zu uns hin, bis wir das endlich im Chor sprechen konnten. Aber leise – weil der „Feind“ so spricht und Lehrer Poppe im Nebenzimmer war.

Wenn unsere Klasse bei „Förß of Forß“ an „Heiss“ dachte, wußte sie nun wenigstens, daß die Franzosen durch die Nase sprechen und kein H sprechen können. „Männjuh“ war auch französisch, aber Vaters Schneuz war angenehm kitzelig.

Schulhof-Gespräche

Alle paar Wochen ging Mutter in der großen Pause auf den Schulhof. Sie erkundigte sich dann immer bei Fräulein Fölster nach meinen Leistungen. Im genügenden Abstand schlich ich um die beiden Frauen herum. Ich wußte ja selbst nicht so recht, wie es ausgeht, das Gespräch. Aber es kam eigentlich nie ein Donnerwetter danach. Was aber sprach Mutter dann noch mit der Lehrerin? Ich genierte mich ein wenig wegen der anderen Kinder, die mal mich, dann Fräulein Fölster und dann meine Mutter beäugelten.

Zwischen den spielenden Kindern stand sie dann da, meine Lehrerin. Viel größer als meine Mutter, im schönen grünen Kostüm, gerade und stolz. Ja, stolz stand sie immer. Aber mit viel Güte im Blick, manchmal auch streng. Aber dann war’s auch nötig. Na, und meine Mutter stand bei ihr. Adrett und mit erhobenem Blick das Fräulein anschauend. Was sprachen die also, wenn nicht über mich? Ich pirschte mich heran, faßte zaghaft Mutters Hand, die sie aber abschüttelte. Und dann fielen sie sich beide – meine Mutter und meine Lehrerin! – in die Arme und Mutter sagte: „Gott sei Dank! Der Chamberlain hat es geschafft!(1) Der Kelch ging nochmals vorüber!“ Und beide weinten Freudentränen.

In der Zwischenzeit hatten die beiden noch oft miteinander gesprochen. Die eine oder die andere weinte hin und wieder mal verstohlen, oder die Frauen lachten. Ein wenig war ich auch stolz, dass sich meine Mutter mit meiner Lehrerin besprach. Eines Tages fing der Morgen zu Hause schon ganz nervös an. Meine Mutter sang nicht wie gewohnt. Sie hatte sich schon ausgehfertig angezogen. Da ahnte ich, daß sie wieder „zum Gespräch“ in die Pause kommt.

Die Lehrer standen gruppenweise zusammen, ohne darauf zu achten, ob wir uns irgendwo balgten oder sonst etwas passierte. Und dann sah ich auch meine Mutter bei Fräulein Fölster in der großen Pause. Ich lief hin, und Mutter nahm meine Hand und hielt sie ganz fest. So ernst habe ich das Fräulein selten gesehen, Mutter weinte. Und das Pausengespräch endete mit Mutters Worten: „Jetzt hat der Schweinehund es doch geschafft.“ Und das war, als ab 1. September 1939 der Krieg begann. Ich bin zu dieser Zeit neun Jahre alt und denke: Krieg? Was ist das?

(1) Durch das Münchner Abkommen vom 29./30. September 1938 wurde ein Krieg zunächst verhindert.

„Mit äußerster Disziplin bitte“

Als unsere Schule an der Heyestraße durch Brandbomben beschädigt war und wir dort keinen Unterricht mehr haben konnten, mußten wir erst in die Schule an der Morperstraße gehen. Aber auch diese Schule wurde durch Bomben unbrauchbar, und wir mußten schließlich von der Hardenbergstraße bis zur katholischen Volksschule Unter den Eichen laufen. Und das war mehr als ein Kilometer weit. Natürlich gab es kein Fahrgeld, um mit der Linie 3 bis dorthin zu fahren.

In dieser Zeit also, ab 1943/44, waren nicht nur nachts, sondern auch tagsüber viele Fliegerangriffe. Wenn wir gerade mit dem Unterricht in der Klasse angefangen hatten und wenn dann die Sirenen heulten, mußten wir Kinder „mit äußerster Disziplin bitte“ und mit „Ruhe bewahren“ von der Klasse in den Keller und durch den Keller im Eilschritt in den Bunker laufen, der direkt neben der Schule war.

Zuerst wollte die Lehrerin noch mit uns Rechenübungen machen, aber wir Kinder saßen dichtgedrängt nebeneinander auf den schmalen Bänken. Es war praktisch so wenig Erde über unserem Bunker, daß wir die Flieger sehr genau hören konnten, wenn sie über Gerresheim hinwegflogen. Und dann zitterten wir schon. Ihr könnt Euch denken, daß wir dann nicht mehr in der Lage waren, der Lehrerin zuzuhören. Wenn dann noch Bomben in der Nähe fielen und wir die Erschütterung durch die Erde hinweg spürten, dann dachten wir nicht mehr an Schule, Zeugnisse oder Lehrerin, sondern nur noch daran: „Hoffentlich ist zu Hause noch alles heil.“

Könnt Ihr Euch denken, daß in Eurem Zeugnis steht als einzige Note: „Ruth hat am Unterricht teilgenommen.“ ? Wie viele Stunden, und was wir eigentlich noch gelernt haben, das weiß der liebe Himmel.

Der Weg von der Schule nach Hause war oft abenteuerlich. Wenn wieder die Alarmsirene ertönte und sogleich die Flugzeuge über einem waren, konnte es in der letzten Phase des Krieges passieren, daß die Flieger im Tiefflug nach unten stürzten und auf uns schossen. Da half dann nur noch ein Sprung in einen Hauseingang und wie wild gegen die Türe bollern in der Hoffnung, daß die Hausbewohner dich einließen. Meist saßen alle schon im Keller. Jeder mußte dann abwarten, bis zumindest Vorentwarnung kam. Aber dann war es immer noch gefährlich, auf die Straße zu gehen.

War ich wieder an unserer eigenen Haustüre, fiel mir ein Stein vom Herzen: Ich war wieder mit meiner Familie zusammen. Ein neuerlicher Alarm kam mir dann nicht mehr so schlimm vor.

Er hat doch nichts getan!

Die Schneiderin, die mir meine Kinderkleider nähte, wohnte in der Künne-Straße. Sie war eine kleine schwarzhaarige Frau. Mein Opa sagte immer, „die ist propper“. Sie hatte eine Wohnung, zu der meine Mutter „Puppenstube“ sagte, so hübsch und hell war alles eingerichtet. Während wir im dritten Stock eine Zwei-Zimmer-Wohnung hatten, wohnten die Leute auf der Künne-Straße so, daß ihr Küchenfenster in den Hof zeigte, der schön mit viel Gras und Blumen bewachsen war.

Die Straße war so benannt, weil dort auch die Firma Künne ihre Fabrik hatte. Die konnte man der großen grauen Mauer erkennen, die um das Werk herum lag, und oben drüber stand groß – mit zwei Sternen eingerahmt – „Künne“. Für ihre Arbeiter hatte die Firma nicht nur saubere Häuser gebaut, sondern ihnen auch einen grünen Innenhof gegeben. Das war freundlich. Mutter sagte, auf der Künne-Straße wohnen viele jüdische Familien. Was sind Juden-Familien?

Heute bogen wir gerade in die Künne-Straße ein, als viele Männer mit braunen Hemden auf einen einzelnen Mann einschlugen. Der duckte sich im Laufen, weil die Schläge immer wieder seinen Kopf trafen und seine Schulter. Er versuchte auch, die Hände vor sein Gesicht zu halten. Alle Männer liefen und schrien fürchterlich, und ich versteckte mich an meiner Mutter, so gut es ging.

Und dann war da eine Frau. Sie hatte die Schürze noch umgebunden. Sie streckte die Hände in die Luft und rief immer wieder: „Was hat er euch denn getan? Was hat er euch denn getan? Laßt ihn doch in Ruhe! Laßt ihn doch!!! “

Die Straße war menschenleer, und niemand half dem Mann. Mit meiner Schwester an der Hand und mit mir sprang Mutter auf die grüne Gartentür zu, die sich schnell von innen öffnete, weil die Schneiderin uns erwartet hatte.

Und zitternd standen wir alle im freundlichen grünen Garten und hörten die bösen Stiefelschritte, die am Haus vorbeiliefen. „Diese Schweine“ sagte meine Mutter. Aber eigentlich gebrauchten wir solche Wörter gar nicht zu Hause. Ich konnte das alles nicht verstehen.

Maria

„Fremdarbeiter“ waren sie alle, die bei „Heye“ auf der Glashütte arbeiteten. Während des Krieges waren sie aus ihren Heimatländern buchstäblich entführt worden, um – sie waren alle jung – die Männer zu ersetzen, die Krieg gegen ihre Länder führten, oftmals gar nicht so gern, wie mein Vater. Menschen aus Polen, Litauen und der Ukraine waren die Arbeitskräfte, die bei schlechter Unterkunft und noch schlechterem Essen uns helfen sollten, den Sieg zu erringen. „Untermenschen“ wurden Menschen genannt, die aus den Ostgebieten kamen. Aber auch Holländer und Franzosen waren als Gefangene oder „Fremdarbeiter“ in den Fabriken beschäftigt. Sie wurden aber anders behandelt und bekamen mehr zu essen.

Auf der Straße sahen meine Mutter und ich Maria das erste Mal, als sie die Mülltonnen nach etwas Eßbarem durchstöberte – die schlimmste Form der Armut und Verlassenheit, wie ich heute weiß. Ich war 10 oder 11 Jahre alt, Maria war 18 Jahre alt; wie wir später erfuhren. Ein hübsches blondes Mädchen, mit blauen Augen und den hohen Wangenknochen der Slawin.

Meine Mutter sah das Mädchen kopfschüttelnd an, das sich erschreckt zurückziehen wollte. Es folgte dann aber der Einladung, nicht ohne sich scheu umzusehen. Aber: „Ich Johanna – und Du?“ ergab „Maria“. Der Anfang der Verständigung war gemacht. Sie kam für eine kurze Zeit zu uns, und wir teilten mit dem Mädchen Maria das wenige, was wir, rationiert, zu essen hatten. Nur das habe ich davon behalten. Und die Form ihres Gesichtes, ihre Gestalt. Ich war zu jung, die Tragweite von all dem zu erfassen, aber die Not der Maria erkannte auch ich.

Eines Tages kam sie nicht mehr. Wir wußten nicht warum und sahen sie nie wieder. Zu Beginn unserer Bekanntschaft stand nur der Satz meiner Mutter: „Mein Gott, wenn das meiner Tochter widerfährt!“

Jura und Duran

Vater war schon lange Soldat. Ich vermißte ihn sehr. Viele Väter waren nicht zu Hause. Aber Mutters Bruder, der Onkel Heini, war in einem kriegswichtigen Betrieb beschäftigt, bei Rheinmetall und daher vom Krieg „freigestellt“. Seine Frau war die schwarze Tante Grete. Sie hatte pechschwarze Haare, war aus Pommern und rollte das RRRRR. Rrrrrutchen, sagte sie immer zu mir. Hierhin ging meine Mutter oft mit uns Kindern, vor allem an den Geburtstagen.

Onkel Heini liebte Schallplatten. Er hatte schon sehr viele davon, er konnte sie auf dem Plattenspieler laufen lassen. Dieser Plattenspieler war sein ganzer Stolz. Dazu nun kaufte er noch mehr Schallplatten. Er hatte solche mit den Stimmen von Fjodor Schaljapin, Marta Eggerth und Jan Kiepura und auch von Joseph Schmidt. Auf jeden Fall aber viele mit „russischer Seele“, wie er sagte. Er hatte aber auch Schallplatten mit den besten Jodlern. Weil er ja nie in die Berge kam, um die selbst einmal zu hören, wenn das Echo schallt. Ach ja, den Postillon von Lonjumeau hatte er auch. Der Onkel sang immer mit dem Sänger. Er liebte Tenöre.

Eines Tages kamen wir wieder zu Tante Grete, als sie uns mit dem Finger auf dem Mund empfing. Sie warf Mutter vielsagende Blicke zu und schloß hinter uns leiser als sonst die Tür. Verschüchtert sah uns ein junger Mann an, der in der Ecke neben dem braunen Tischchen stand, noch mit einer Schnitte Brot in der Hand. „Das ist Jura“, sagte Tante Grete, „ein Jugoslawe, von Heye“. Ein Fremdarbeiter war er. Kontakt damit war nicht erlaubt, und es war gefährlich. Ich weiß nicht warum. Jura war von Jugoslawien nach Deutschland gebracht worden, um hier für einen kriegswichtigen Betrieb zu arbeiten. Seine Familie, sagte er, weiß nicht, wo er ist. Und er war noch so jung.

Jura war für uns ein komischer Name. Ich saß mit meinem Vetter und meiner Schwester immer unter dem Tisch. Da waren wir den Großen nicht im Weg, sie vergaßen uns, wir hörten aber alles mit. Uns haben sie ja nie etwas erzählt, weil seltsamer Weise manches Erzählen gefährlich war. Dann war es politisch.

Jura und auch Duran, der später dazu kam, bekamen immer etwas zu essen, soweit die Familie etwas hatte. Aber deutsch sprechen konnten sie nur langsam. Die „Hüttenleute“ sprachen Hütter Platt, mit anderen Deutschen durften sie nicht sprechen. Und so klang manches Wort lustig aus ihrem Mund. „Scheinstornfeger“ sagten sie zum Beispiel für Schornsteinfeger, oder „Schnaufenziehen“ für Schraubenzieher. Wir kicherten unter dem Tisch, und die Großen lachten sich halb tot, und alle hatten ihren Spaß, wenn der Onkel den beiden sagte: „Jura ! Schorn-stein-fe-ger ! Schorn-stein-fe-ger heißt das doch!“

Eines Tages klopfte die Polizei an die Tür, als wir gerade wieder einmal abends feierten. Wegen des Fliegeralarms durften Renate und ich zur schwarzen Tante Grete mitgehen, damit wir immer beisammen waren, wenn die Sirene losging. Onkel Heini hatte eine Jodelplatte aufgelegt und mitgesungen: „Ja ja die lustigsten Buam san die Holzhacker-Buam, driholdrio schlag ma zua. Wir nehm die Axt und wir denken dabei, wir schlagen den Nazis die Knochen entzwei!“ „Heini !“ Der gedämpfte Schrei von Tante Grete. „Wenn die das hören!“ ließ ihn aber weiter die Faust auf den Tisch knallen und weitersingen. Jura und Duran machten sich im Nebenzimmer, in das sie geflüchtet waren, ganz klein, aber die von freundlichen Nachbarn herbeigerufenen Polizisten kannten den Ringer Heini Schnabel vom TuS Gerresheim – und verließen ihn mit der Mahnung, sich ruhiger zu verhalten.

Jura und Duran kamen wohl gerne, und nicht nur weil sie etwas zu essen bekamen. Hier wurde trotz allem Kummer noch gesungen und gelacht. Eigentlich sind Fremde mit einer anderen Sprache nicht so fremd, wenn man versucht, sich gegenseitig zu verstehen. Schornsteinfeger ist ja auch ein schweres Wort, und auf jugoslawisch kann ich es gar nicht sagen.

Irgendwann sind die beiden dann nicht mehr gekommen, in einen anderen Betrieb geschickt worden. Hoffentlich hat Jura seine Mutter wiedergesehen, weil er sie doch so sehr vermißte.

Die Kolonne

Wir waren wieder auf einem Spaziergang. Unser Weg führte uns – die Mutter mit Renate und mir an der Hand – über die Heyestraße in Richtung Amtsgericht. Es war ein schöner Sonnentag. Die großen Kastanien auf dem Platz vor dem Amtsgericht, nahe am Käthe Kollwitz Haus der Arbeiterwohlfahrt – waren schön schattig, und der Boden dort war wie unser Waldboden.

Von weitem sahen wir, daß an den Straßenbahnschienen in der Höhe der „Krone“ gearbeitet wurde. Ich freute mich schon, daß wir dort die Filmbilder anschauen würden, wenn wir das Kino erreicht haben. Aber, je näher wir kamen, um so komischer wurde der Gang meiner Mutter. Mal schnell, mal langsam ging sie mit uns weiter, unseren fragenden Blick nicht bemerkend, nur unsere Hände hat sie so stark gedrückt, daß es weh tat.

Nun sah ich auch, was Mutter so erregte, ohne den Sinn zu kennen. Da waren doch nur ein paar Arbeiter, so an die zehn, die die Schienen reparierten. Sie hatten aber auch ulkige Anzüge an. Keinen Arbeitsanzug wie mein Vater sonst trug, sondern weiß und schwarz gestreift; und ein rundes Käppi hatten sie auf. Ein Mann stand dabei. Es war unser Nachbar von gegenüber, Herr Benthin. Er hatte einen grünen Lodenmantel an. Vielleicht war es ihm noch zu kalt, wenn er den ganzen Tag unterwegs war.

Nach einer kurzen Überlegung machte Mutter kehrt und rannte mit uns förmlich nach Hause. Sie lief in unsere Wohnung, wir mußten unten warten. „Bleibt ja stehen!“ rief sie uns zu, ehe sie nach oben verschwand. Nach kurzer Zeit kam sie zurück und trug ein Päckchen dabei, in Zeitungspapier eingewickelt.

Wieder gingen wir Richtung Amtsgericht. Die Männer waren schon ein Stück weitergekommen mit ihrer Arbeit. Mutter schaute Herrn Benthin an – es war wohl ein wilder Blick – oder empört traurig ? Jedenfalls schauten sich die beiden Menschen an, der Bewacher der Männer, Herr Benthin, und meine kleine Mutter. Und dann drehte sich Herr Benthin wortlos um, die Hände in seinen grünen Mantel vergraben. Seinen breiten Rücken mit der tiefen Falte im Mantel sehe ich noch heute. Im gleichen Moment legte meine Mutter blitzschnell das Paket an den Straßenrand. Einer der Männer stutzte, - und ebenso schnell ließ er die von Mutter geschmierten Brote in seiner dünnen Jacke verschwinden.

Und so ging es jeden Tag, bis die Männer nicht mehr wiederkamen, weil die Arbeit fertig war: Mutters einverständlicher Blick mit Herrn Benthin, umdrehen, Paket hinlegen, aufnehmen, weitergeben. In Sekundenschnelle passierte das.

Wie gefährlich das war, habe ich erst viel später erkennen können. Für meine Mutter und für den Beamten Herrn Benthin. Aber seinen Namen habe ich nicht vergessen. Nur kurz hatte ich einmal das Wort „KZ-ler“ aufgefangen. Was war das, was hieß das?

Was ist das – Krieg?

Seit dem 1. September 1939 hatten wir Krieg. Der Führer hatte im Radio laute Reden geschrien und viele Stimmen auch. „Sieg Heil!“ so schrien sie immer wieder. Das war manchmal richtig fröhlich anzuhören. Aber bei uns zu Hause weinte Mutter bei dem Wort Krieg, und unser Fräulein Fölster hatte Tränen in den Augen. Auch Lehrer Ferschen guckte bedrückt, denn er wurde Rektor, obwohl er das gar nicht wollte. Weil doch unser netter Rektor auch Soldat wurde, wie Vater. Krieg war also Schreien, Tränen und – Trennung?

Als wir von Gerresheim aus die lange Fahrt zum Düsseldorfer Hauptbahnhof begannen, mit der Linie 3 zuerst, und dann in die Linie 9 am Staufenplatz umstiegen, da, wo die schönen Rhododendron-Sträucher waren, die vielen Bäume und das Grün, sprach niemand. Nicht Vater mit Mutter oder Vater mit mir. Obwohl er sonst immer zu Späßen aufgelegt war. Meine Schwester hielt er auf dem Schoß.

Vater mußte sich in einer Kaserne in Sonthofen melden und sollte anschließend nach Arnsberg. Wo lag das bloß? Das war ja nicht einfach irgendwo in Düsseldorf! Mutter machte ihr steinernes Gesicht. Vater sah in seiner neuen Uniform fremd aus. Auf dem Bahnhof wimmelte es von Soldaten, mit und ohne Familie. Die Kinder klammerten sich an die Beine der Väter oder lehnten auf dem Arm des Vaters eng an eng. Alle Soldaten hatten auch die fürchterliche Gasmaske am Gürtel, die wir zu Hause schon ausprobieren mußten. Lieber ersticke ich, als die nochmals anzuziehen, dachte ich. Und was ist das eigentlich – Gas, das der „Feind“ – und wer ist das? – herabschmeißen soll?

Die Uniform von Vater kratzt an meiner Wange, und ich schaue hoch. Er hat Renate noch immer auf dem Arm. Meine Mutter spricht nichts. Da steht er, der Vater. Er hat mir das Radfahren beigebracht und ist mit mir auf Pappendeckel den Berg heruntergerutscht. Ich habe ihm das Essen gebracht, wenn er samstags und sonntags tapezieren ging. Ich sehe Vater mit dem aus Zeitungspapier gebastelten Schiffchen auf dem Kopf vor mir, rieche die Farbe, mit der er die Zimmer der Nachbarn immer so schön gemacht hat. Dabei hat er immer wegen der Hausfrauen und wegen ihrer vielen Hausarbeit sorgsam mit dem Terpentinlappen die Flecken sofort weggewischt.

Und nun steht Vater hier mit uns, muß weg und will gar nicht. Er weint. Ganz leise, und schneuzt in sein Taschentuch. Mein Vater, mein großer Vater, weint. Das ist wohl der Krieg, denke ich. Wenn schon die Männer weinen.

Der Waldbunker Quadenhofstraße

Zwischen der Hardenbergstraße und der Hatzfeldstraße war „unser“ Waldbunker. Ich erinnere mich noch genau, wann und wie er gebaut wurde.

In unserem Wald am Hardenberg spielten wir sommertags fast den ganzen Tag über in den großen Ferien, sonst aber immer dann, wenn wir Schularbeiten gemacht hatten. Ob wir nun als Kleinere im Sand spielten und mit dem Wasser aus dem Regenauffangbecken Kleckermatsch machten oder einfach nur den feinen Zuckersand unter den Füßen fühlen wollten, ob wir Kaufladen spielten und uns der Zuckersand als Zucker und Mehl diente oder der fette gelbe Sand als Butter, - wir wurden nicht müde mit unseren Spielen. Und im Winter diente uns der Weg im Wald als Schlitterbahn oder sogar als Bobbahn. Und wenn im Sommer die Himbeeren oder Brombeeren – erst die Roten und dann die Schwarzen, sagten die Eltern immer – reif waren, pflückten wir die und stampften sie mit einer Wäscheklammer so lange, bis nur noch der reine Saft vorhanden war. Wenn oben am Berg die Blaubeeren zu finden waren, suchten wir uns diese Waldfrüchte, und an unseren Händen und Mündern konnte Mutter immer erkennen, wo wir gerade gespielt hatten. Daß wir dabei, auf dem Bauch liegend, auch die Eidechsen beobachteten, wenn sie sich in der Sonne wärmten, war immer eine besondere Freude.

Es war im Frühjahr 1940, als Soldaten anrückten mit vielen Schaufeln, Lastwagen und einem Förderband. Das alles stellten sie an der Quadenhofstraße auf. Sie begannen an dieser Stelle dann mit ihren Grabungsarbeiten und setzten, als sie bereits einen hohen Berg schönen gelben „Buttersand“ ausgebuddelt hatten, das Förderband in Betrieb. Das war ein langes Band aus Gummi, so einen guten halben Meter breit; das lief über Rollen. Durch die Hubbelei transportierte das Band dann den Sand aus dem nun bereits tiefen Loch hoch und auf die Quadenhofstraße. Einmal fragte ich einen der Männer, ob ich mich da ’mal draufsetzen dürfte, und der Soldat sagte lachend: „Wenn du willst …“. Und ob ich wollte! Bald saß ich auf dem Förderband und freute mich auf eine tolle Rutschpartie. Aber jedes Mal, wenn mein Po über eine Rolle rutschte, tat das doch etwas weh an den Pobacken. Schnell war ich also wieder auf dem Waldboden und beobachtete nun von weitem, was die Männer taten.

Sie luden viele lange Bretter, dicke Bohlen, ab, bis ein richtiger Holzberg entstanden war. Und dann schalten sie die langen Gänge einfach in den Sand ein. So entstand ein riesig langer Gang auf Brettern, oben, unten und an den Seiten. Vor jeden Eingang kam dann eine zweifache dicke Betonwand. Die vordere Wand war sozusagen ein Splitterschutz. Als dann an jedem der drei Eingänge noch eine dicke Stahltüre angebracht wurde, war der Bunker mit seinen drei Eingängen fertig. Ich ahnte damals noch nicht, welch schreckliche Stunden ich in diesem Bunker verbringen würde.

Bereits ab 1941 fielen die ersten Bomben auf Düsseldorf. Lange, bevor die Sirenen aufheulten, hatte meine Mutter den „Feindsender“ gehört, der mit einem dumpfen „bumbumbumbum“ von Trommeln Unheil ankündete. Meist holte Mutter Renate und mich dann schon aus dem Bett, so daß wir bereits angezogen waren, wenn die Sirenen ertönten. Und dann zogen wir los, vielmehr wir liefen, denn wir wollten im Bunker „unseren Platz“ haben.

Meine Mutter war an den Nieren erkrankt und nahm deshalb immer die dicke Steppdecke mit, die sie um ihre Hüfte gelegt hatte. Die Decke hing bis auf ihre Füße. Mit einer Hand hielt sie also die Decke fest, in der anderen Hand hatte sie die Tasche – ihre schöne lederne schwarze Stadttasche – gefüllt mit den Papieren. Denn ohne Papiere war man schließlich gar nichts auf der Welt. Die Papiere waren: der Ausweis über die Geburt, aber auch der Nachweis darüber, daß z. B. mein Vater Soldat war und meine Mutter für sich und uns Kinder „Unterstützung“, Geld zum Leben, erhielt. Und selbstverständlich waren die Lebensmittelkarten darin untergebracht. Die Bomben konnten alles zerstören, aber bitte nicht unsere Lebens-Mittel-Karten!

Bei Mutters Trippelschritten mit der schweren Steppdecke mußte ich an ein Bild von einer Japanerin denken, deren langer Rock genau so grün war wie Mutters Steppdecke. (Heute glaube ich, sie nahm die Decke auch mit, damit wir etwas zum Zudecken haben, wenn Bomben unser Haus treffen sollten.) Aber wie sah ich nur aus! Sommers wie winters trugen Renate und ich i m m e r unsere Trainingsanzüge. Immer hatte ich einen großen Rucksack auf dem Rücken, in dem unsere Unterwäsche und einige Kleidungsstücke verstaut waren. An der rechten Hand hielt ich meine kleinere Schwester Renate, die genauso trippelte wie Mutter. Und in der linken Hand trug ich einen Koffer. In dem lagen alle Anzüge meines Vaters. Wenn er aus dem Krieg zurückkam, sollte er seine schönen Anzüge wiederfinden.

Trotz der Rennerei war der Weg zum Bunker spannend für mich. Man hörte in der Ferne schon die Bombengeschwader brummen. Die Scheinwerfer unserer Flak suchten – wie riesige lange Finger – den Himmel nach den Flugzeugen ab. Und wenn die feindlichen Bomber dann noch über die Stadt ihre „Christbäume“ setzten, war das für mich wie Feuerwerk, das wir vor dem Krieg vom Hardenberg aus zur Großen Kirmes am Rhein beobachteten. Die „Christbäume“ landeten als große rote Leuchtkugeln die trotz der Dunkelheit die Stadt in helles Licht tauchten. Mit ihrer Hilfe konnten die Flieger ihre Bombenziele besser erkennen. Und dann setzten die Bomber auch schon ihre Bomben über der Stadt ab, so daß wir die Einschläge bis nach Gerresheim hörten.

Im Waldbunker drängten sich die Menschen durch die Türe, an der ein Luftschutzwart stand. Der ließ nur Frauen und Kinder in den Bunker, oder ganz alte Menschen. Und wer zu spät kam, mußte draußen bleiben. Durch den schmalen Gang schob man sich dann immer weiter nach hinten. Und das war etwas, was ich haßte: Hinten, weit in den Bunker hereinzugehen, weg von der Türe. Die Türe war der einzige Fluchtweg für uns alle. Nur der schmale lange Gang und in der gleichen Länge rechts eine Bank, auf der die ganze Nachbarschaft dicht gedrängt saß.

Es rückten zwar alle zusammen, um noch eine Person auf den Sitzplatz zu lassen, aber oftmals habe ich auf der Steppdecke zu Füßen von Mutter und Schwester gelegen. Über mich stiegen dann diejenigen, die mal kurz aufs Klo mußten, hin und auch wieder zurück. Das gab nur wenig Ruhe.

Heute noch habe ich bedrängte Gefühle, wenn viele Menschen zusammenstehen. Und es kann sich niemand meine Angst vorstellen, wenn durch Bombeneinwirkung kein Strom mehr da war und die Lüftung ausfiel: Es kam keine frische Luft mehr in den Bunker und die alte verbrauchte Luft der vielen Menschen wurde auch nicht abgesaugt. Wir beruhigten uns zwar gegenseitig: Bald haben die Stadtwerke den Schaden behoben. Aber unsere Todesangst wich erst wieder, wenn das Licht und damit auch die Lüftung wieder anging.

„Klosterfrau Melissengeist“ mag ja ein gutes Heilmittel sein. Aber ich kann es immer noch nicht riechen, denn unsere Nachbarin im Bunker nahm die Tropfen zur Beruhigung ihrer Nerven, zum Abtupfen ihrer Stirn und legte ein damit getränktes Heilläppchen auf ihre Brust, um ihr wild gewordenes Herz zu beruhigen, wenn die Erstickungsangst sie fast umbringen wollte.

1943/44 war es wohl, als meine Mutter fragte, womit sie mir eine Freude zum Geburtstag machen könne. „Bitte Mutti“, sagte ich, „laß uns nun im Keller bleiben. Wenn wir auf unser Haus eine Bombe bekommen, findet man uns eher als in dem Bunker mit den vielen Menschen“. Und seitdem waren wir dann wieder, wie zu Anfang des Krieges, nur noch in unserem Luftschutzkeller, der ja „bombensicher“ sein sollte.

Der letzte Tag

Es war der 16. April 1945. Der Beschuß der Amerikaner kam von der „Insel“ hinter dem Gerresheimer Bahnhof und von Erkrath her stark in „unseren Wald“. Man traute sich noch kaum auf die Straße. Wir wohnten direkt am Hardenberg, auf der Hardenbergstraße, und steckten vorsichtig die Nase aus der Haustür, weil auch die Aufklärer der Engländer noch unterwegs waren und ihre Bomben abluden. Meine Mutter war total aufgelöst. Wir hatten die Nachricht erhalten, daß Onkel Theo Andresen erschossen sein soll. Genaues wußten wir aber noch nicht. Onkel Theo erschossen – warum wohl?

An unserer Haustür wurde ein Butterfaß (!!!) vorbeigerollt, und ich sah verdutzt, daß es im Nebenhaus verschwand. Ein Butterfaß – hier – und wieso? Durch Martha W. erfuhr ich dann, daß oben in unserem Wald ein Riesenlastwagen mit Lebensmittelbeständen der Wehrmacht stünde und die Menschen bereits dabei waren, den Laster zu plündern. Gegen das Verbot meiner Mutter machte ich mich – die Laufgräben im Wald benutzend und damit dem Beschuß ausweichend – mit zwei Nachbarn auf den Weg, um auch „was zu essen“ zu ergattern. Oben angekommen, wimmelte es von Menschen, die über einen Teppich zertretener Plätzchen – die Eiserne Ration, wie ich von meinem Vater her wußte – stapften. Und dann stand da ein Offizier, der die Menschentraube aufforderte, das Wehrmachtsgut liegen zu lassen, es würde gleich in die Luft gesprengt. Dabei hielt er bedrohlich ein Maschinengewehr im Anschlag. Im gleichen Augenblick sprangen zwei Soldaten gegen den Offizier und drohten ihn zu erschießen, wenn er der hungernden Bevölkerung diese Lebensmittel wegsprengen würde. „Subversiv, Verrat, Feind in die Hände spielen“ – das waren die Worte, die mir noch heute in den Ohren dröhnen, in dem Kampf, der sich zwischen den drei Männern entspannte, während die Menschen unbeirrt den Wagen leerten.

Ein gerade aufgefangenes Brot wurde mir von einer Frau aus unserer Straße wieder aus den Händen gerissen, worüber ich entsetzt war. Diese Frau! Sonst so still, und fromm war die auch. Mit nur einem harten Kanten Kommißbrot und einem Päckchen getrocknetem Tomatenmark kam ich wieder heil zu Hause an. Und als etwas ganz Kostbares bekam ich zwei Schnitten, während meine Mutter und die kleine Schwester je eine Schnitte in den Händen hielten.

Endlich! Endlich!

Heute morgen scheint die Sonne. Der Kalender zeigt den 17. April 1945. Wir hatten in der Nacht kaum geschlafen, denn in der Nähe war immer wieder das Schießen der Amerikaner zu hören, die bereits in Erkrath standen. Wir schliefen ja alle im Keller in den Luftschutzbetten, krochen an diesem Morgen daraus hervor und gingen vorsichtig in unsere Etage und der Wohnung zu, immer gegenwärtig, daß eine einzelne Bombe oder ein Granatentreffer unser Haus erwischen könnte.

Ich hatte wieder über Frau Roßbach und ihre langen Spitzenhosen gelacht (heimlich natürlich!), als sie langsam aus der oberen Etage nach unten kletterte. An so etwas hatten wir Kinder natürlich unseren Spaß.

Gegen den Willen meiner Mutter war ich nochmals in den Wald gelaufen, um vielleicht bei einem verlassenen Wehrmachtswagen noch etwas Eßbares zu finden. In den Laufgräben Deckung suchend kam ich aber unverrichteter Weise wieder zurück in die Hardenbergstraße. Hier wartete schon Mutter auf mich. Sie war sehr aufgeregt, das konnte ich wohl erkennen. Es war eine nervöse Spannung. Bis endlich ein Rufen durch die Straßen ging: „Die Amis kommen!“ Herzklopfen hatte ich und schreckliche Angst. Der Feind!? „Der Befreier“ – zischte meine Mutter mich an. Ich lief in den schützenden Keller, um mich dort zu verkriechen. Mutter war mit der Schwester an der Hand zur Heyestraße gelaufen, um bald aber wieder zurückzukommen. „Warum heulst du? Denkst Du vielleicht an den Kerl, der uns das alles eingebrockt hat“, rief sie mir zu. „Die Amis sind da, der Krieg ist aus; aus!!!“ Die Spannung der letzten Tage entlud sich voll auf mein Haupt. Ich weinte fürchterlich und wußte gar nicht warum.

Vielleicht auch aus Enttäuschung über den Zusammenbruch aller Dinge, die bisher waren, ganz sicher aber und ganz stark weinte ich um meinen Lieblingsonkel Heini, der dies nun nicht erleben konnte, der „umsonst“ gefallen war. Mir fiel kein anderes Wort ein. Dann lief aber auch ich in die Heyestraße, vorbei an blühende weiße Schneeballen, die in mir bis heute die Verbindung auslösen zu „Kriegsende – Amis“. Dick und schwer prangten die Blüten aus Pastor Küppers Gemeindegarten über den Zaun. Der war vom Beschuß teilweise zerstört.

Und dort kamen sie auch schon, die Panzerwagen, auf denen Zivilisten saßen, eine weiße Fahne vor lauter Freude schwenkten, immer wieder die Arme hochrissen und allen zuwinkten, uns Unverständliches zuschrien. Lag vielleicht deshalb seit Tagen das weiße Bettlaken zu Hause?

Und dann kam ein Panzerwagen, auf dem zwei bekannte Männer saßen, in deren Mitte saß Jungbluth. Wir hatten immer nur Jungbluth gesagt, nie „Herr Jungbluth“.

Und ich denke an meine Familie, Oma und Opa, Onkel Anton, und Tante Emma, die – verschreckt an die Wand gepreßt – eine Horde „Brauner“, allen voran Jungbluth, in den Flur stürmen sahen. Ich dicht daneben, noch ganz klein, und sehe wie Jungbluth die Dielen in der Kirche aufreißen ließ. Er suchte Waffen.

Da sitzt er nun, auf dem Panzer, eingekeilt zwischen zwei Gerresheimer Männern und den Amerikanern. „Bluthund“ nannte meine Mutter ihn immer. Er war immer zum Fürchten, selbst die Parteigenossen machten einen großen Bogen um ihn, obwohl er normal aussah. Einen Anflug von Ahnung hatte ich nun doch, daß hier etwas vorbei war, das Angst verbreitet hatte. Und was macht seine Tochter nun, die in unserer Schule war, und was seine Frau, eine kleine, schmale, stille, dachte ich.

Und nun waren die Panzerwagen vorbei, überschüttet mit Schneeballen und Händeklatschen, die Menschen fielen sich in die Arme und weinten und lachten in einem und riefen: „Endlich! Endlich!“

Ich ging still nach Hause, wieder in den Luftschutzkeller, in dem wir seit 1940 gesessen, geschlafen, gelebt und gezittert hatten, und konnte alles noch nicht so recht begreifen. Ein Sonnentag, der 17. April. Und im Juni werde ich Fünfzehn. Und wir haben keinen Krieg mehr, sagen alle. Es würden keine Bomben mehr fallen. Ich weiß nicht, warum ich wieder so heftig weinen mußte.

Et drippt

Von 1945 bis 1948 war unsere Hungerszeit, meine ganz besonders. Kartoffelschalen habe ich gekocht und mit Tomatenmark gewürzt, um meine Eingeweide zu beruhigen, die laut nach Nahrung schrien. Es schmeckte fürchterlich. Alles, was man tauschen konnte, hatten wir mittlerweile eingetauscht gegen Lebensmittel: Die schönen Sammelgedecke, die eigentlich für meine Aussteuer bestimmt waren, Vasen, Uhren und andere entbehrliche Sachen, die wir hofften eines Tages wieder kaufen zu können. Heute mußten wir sehen, wie die größte Hungersnot in unserer Familie abgewendet werden konnte.

Es war die Zeit, da tauschten die Menschen alles. Mein Onkel Walter auch. Er aber hatte ein tolles Tauschmittel: Selbstgebrannten Schnaps. Das war natürlich verboten, das Brennen. Und wenn man ihn beim Brennen oder gar beim Verkauf erwischt hätte, wäre er bestimmt ins Kittchen gewandert. Ich war sehr oft bei meiner Tante zu Hause, sie wohnte uns gegenüber. Sie hatten einen Garten und da gab es immer Obst, an das wir gar nicht herankamen. Von früher wußte ich, daß hier viel eingemacht wird, und mir lief das Wasser im Munde zusammen, wenn ich an Kürbisse, süß-sauer eingemacht, an Gurken oder die herrlichen Marmeladen oder Gelees dachte. Meine Mutter hat nie eingemacht, obwohl die Hütte mit ihren Einmachgläsern nahe war. Sie sagte immer, daß wir nicht so arm sind, daß wir einkochen müßten, aber eigentlich waren wir das doch. Sie hatte nicht das Geld, Vorrat zu kaufen. Glühend habe ich die anderen beneidet, wenn der Kessel auf dem Ofen dampfte und nach einiger Zeit die heißen Gläser mit dem Wintervorrat zu Tage kamen.

Daß Onkel Walter nun Schnaps von Kartoffeln brannte oder, wenn er den hatte, von Weizen, war vielen Leuten in Gerresheim bekannt. Sie brachten Brot, Butter, Fahrradschläuche, Kupferdraht und vieles andere mehr, das sie gegen eine Flasche Schnaps, Knolli Brandy genannt, eintauschten. Das Geschäft ging besonders gut vor Geburtstagen, vor Weihnachten oder Ostern. Ich habs erlebt. Das wußte aber auch die Polizei. Vielmals waren Polizisten in die Wohnung gekommen, ohne jemals einen Beweis zu finden. Sie fühlten sich auf den Arm genommen, weil sie wußten, da ist etwas. Aber Beweise …?

Eines Tages, es war gerade wieder Einmachzeit, ging die Türe auf und drei Polizisten mit Suchhunden kamen herein. Die Hunde waren darauf abgerichtet, Schnaps und andere verbotene Güter zu suchen. Sie winselten, der Schwanz wedelte und die Polizisten dachten schon, daß sie heute erfolgreich das Haus verlassen könnten.

Alles, aber auch alles stellten sie auf den Kopf, machten Schränke und Truhen leer, durchsuchten Keller und Kästen. Tante Paula stand schneeweiß dabei, denn sie mußte ja nachher alles wieder aufräumen. „Wo?“ fragten die Polizisten. Onkel Walter schüttelte nur den Kopf. Dicht standen alle beieinander, belauerten sich und es war spannend wie nie. „Ob sie ihn heute abführen?“ dachte ich. Die Hunde junkten, sprangen am Wasserkrahn hoch, gingen in die Ecke dort, - aber kein Schnaps wurde gefunden. „Ihr Hahn drippt“, sagte ein Polizist höchst nervös und drehte den Wasserhahn zu. „Besorgen Sie sich mal eine neue Dichtung!“ Als die Männer nun gar nichts fanden, verließen sie das Haus wieder, das sich nun in einem unbeschreiblichen Zustand befand.

Tante Paula ließ sich auf einen Stuhl fallen, die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. Onkel Walter nahm ein Wasserglas, hielt es durstig unter den Wasserhahn und sagte – „Prost!“

Er war ein guter Bastler!

(In: Erlebtes und Erlittenes. Gerresheim unter dem Nationalsozialismus. Berichte – Dokumente – Erzählungen. Hrsg. von der Landeshauptstadt Düsseldorf. Düsseldorf 1993, S. 128ff.)

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