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Diana Canetti: Ein geistiges Abenteuer - Das Erlernen der deutschen Sprache in sieben Stufen (1998)

Die Muttersprache lernt man mit der Muttermilch. Die Fremdsprache ist erlernbar. Aber ihre Erlernbarkeit ist abhängig von den sieben Ws der Sprachforschung. Wer ist der Lernende? Wo lernt er: Institution, Arbeit, Familie? Wann lern er, d.h. in welchem Alter? Als Kind oder Erwachsener? Wie lernt er? Mit welcher Frequenz und mit welcher Intensität? Warum lernt er? Zu welchem Zweck und wie ist seine Motivation?

I.

Während ich an der Istanbuler Universität Anglistik studierte, bewarb ich mich um ein Auslandsstipendium. Ich dachte an Frankreich oder England und war selbst überrascht, mit meinem kleinen Koffer in Salzburg zu landen. Es war Hochsommer, und der Sprachkurs hatte schon längst angefangen. Ich platzte als Quereinsteigerin hinein, lernte unbefangen und hatte Spaß daran, mit Hilfe der Zeichensprache einen Freund aufzugabeln. Tagsüber schlenderten wir durch den Mirabellpark, die Heilbrunner Straße entlang oder zur Franziskanerkirche und versuchten alles, was wir über Gott und die Welt wussten, in Worte zu kleiden. So leicht und so spielerisch ging es mit der Geburt der deutschen Sprache.

II.

Das beste Deutsch spreche man im Burgtheater, erfuhr ich, darum wollte ich von Anfang an Theater-Hochdeutsch lernen. Aber wie? So ohne weiteres konnte ich nicht ins Theater gehen. Die Karten waren für mich unerschwinglich. Ich überlegte mir, was ich tun könnte, um so oft wie möglich ins Theater zu gehen. Eine Möglichkeit war, Statistin zu werden. Sollte ich? Warum nicht? Ich hatte einen festen Platz hinter der Bühne. Ich kam jeden Abend um sieben Uhr. Schminken, Frisieren und Ankleiden dauerten maximal zwanzig Minuten. Dann nahm ich einen Bleistift und mein Textbuch, ging hinter die Bühne und saß neben dem Feuerwehrmann. Auf jeder Seite fand ich zwischen zwanzig und fünfzig Wörter, die ich nicht kannte. In meiner Freizeit schlug ich ständig in meinem Wörterbuch nach. Nach zwanzig Vorstellungen kannte ich das Stück fast auswendig.

So hatte ich neben den endlosen Universitätsdiskussionen Ende der sechziger Jahre tatsächlich auch einen Job, der mich sprachlich weiterbrachte. Ich liebte die lebhafte Atmosphäre auf der Bühne und schnappte immer neue Wörter, Redewendungen und Satzfetzen auf, die mir wichtig erschienen. Was nicht in den Rahmen passte, ließ ich fallen. Und so kam es, daß ich die deutsche Sprache nach einem Jahr trotz einiger Unvollkommenheit flüssig sprechen konnte. Mit anderen Worten, ich war schnellzüngig und konnte alles zum Ausdruck bringen, aber ohne einen einzigen korrekten Satz.

III.

Bald war mir Deutsch lieber als alle anderen Sprachen. Ich lebte in einem deutschsprachigen Alltag, ich las auf Deutsch, machte mir Notizen auf Deutsch, träumte auf Deutsch. Natürlich waren meine Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt, obwohl ich in meiner sprachlichen Entwicklung gegenüber früher bedeutend fortgeschritten war. Meine Grenzen wurden mir bewusst. Ich war gezwungen, gewisse Dinge zu sagen und dafür andere auszulassen. Aus purer Lust an der Sprache begann ich, auf Deutsch Erzählungen zu schreiben. Ich dachte mir nichts dabei, sondern fragte mich nur: „Ob du wohl Energie genug hast, das zu Ende zu bringen?“

Mir lag es damals daran in einem Zug zu schreiben, so wie gerade die Worte aufs Papier flossen. Ich kümmerte mich nicht im geringsten um Grammatik oder Satzstellung, schrieb einfach wild drauflos. Bei der letzten sprachlichen Politur half mir ein Kommilitone. Nun sagte er mir: „Wenn du weiter auf Deutsch schreiben möchtest, dann mußt du in den sauren Apfel beißen und gründlich Grammatik lernen!“

IV.

Ich ging wieder zum Sprachkurs der Universität: „Deutsch für Ausländer“, der hauptsächlich von Japanern belegt war. Und hatte vor gründlich in den sauren Apfel zu beißen. Aber mit Grammatik und komplexem Satzbau war nichts los. Der Sprachlehrer sagte unentwegt: „Sehr gut!“ Wenn man nicht genau hinhört, sprechen viele Ausländer sehr gut Deutsch. Aber sehr gut ist nicht ausgezeichnet. Ausgezeichnet ist nicht perfekt. Nicht perfekt ist nicht gut genug für eine Journalistin. Zwischen dem sehr guten und dem buchstäblich perfekten Deutsch ist ein weiter Weg. Wenn es einen Schrittzähler für die Sprache gäbe, dann würde ich sagen, keine Entfernung von einigen Schritten, sondern von tausend und abertausend Kilometern.

Die Grammatik der Muttersprache erwirbt das Kind in einem unbewussten Lernprozess. Sprachgefühl ist Liebe zur Sprache. Dass ich in der deutschen Sprache nicht völlig zu Hause bin, ist ein anderes Faktum.

V.

Sprache ist außerdem ein soziales Erlebnis. Sie lebt erst, wenn man sie mit den anderen teilt. Sie bedarf nicht allein der Begabung, sondern eines Klimas, das sie gedeihen lässt. Ein ungünstiges Milieu, wortkarge Menschen bewirken, dass die Sprache an Kraft und Farbe verliert. Das richtige Milieu für die Weiterentwicklung einer Sprache ist eine Umgebung, die durch ihre Lebendigkeit Sprachimpulse gibt.

Ich war in den ersten zehn Jahren nicht nur als Ausländerin isoliert, sondern auch aus beruflichen Gründen gezwungen allein zu arbeiten. Ich hatte mit fast niemandem Kontakt, wenn ich abends nicht ausging. Ich sah, wie meine Sprache verarmte. Mühsam versuchte ich nachzuholen, was ich im anfänglichen Lernprozess versäumt hatte. Eine nachträgliche Perfektion ist fast unmöglich, weil viele Sprachfehler des Anfangsstadiums in Fleisch und Blut übergegangen sind. Könnte ich nochmals mit dem Erlernen der Sprache beginnen, würde ich versuchen, nach dem Lehrbuch Schritt für Schritt zu lernen. Ob einem Menschen über 25 dann die sprachliche Perfektion gelingt, bleibt dennoch fraglich.

VI.

Mir war es vielleicht gelungen, verbal zu argumentieren, aber ich konnte nicht abstraktes Verhalten oder innere Prozesse in Worte fassen, so dass sie sichtbar werden. Um besser zu lernen, begann ich zu lehren. Es waren auch die einzigen Stunden, in denen ich ein lebendiges Deutsch üben konnte. Bemüht um die Erweiterung meines Wortschatzes, sammelte ich alle geflügelten Worte, alle auffallenden oder außergewöhnlichen Redewendungen. Ich kostete sie, schmeckte sie ab auf Rohstoff und Zutat, auf Sinngehalt und Klangfarbe und fragte mich, wie ich jedes einzelne Wort in meinen Unterricht einfließen lassen könnte.

VII.

Von einem zweijährigen Intermezzo in einem anderen Land nach Deutschland zurückgekehrt, merkte ich wie verrostet mein Deutsch war. Was tun? Ich machte eine journalistische Fortbildung für den Rundfunk, in der Hoffnung mein Deutsch aufzufrischen. Mein erster Schock war, daß ich mich sprachlich sehr überschätzt hatte. Zwar hatte ich Vorträge gehalten, aber mich noch nie „live“ gehört. Es wimmelte nicht nur von grammatikalischen Fehlern und Versprechen. Es fehlte auch ganz schlich an einfachen und alltäglichen Vokabeln.

Darüber grübelte ich, während eine Dozentin uns nach den Eigenschaften der Sprache fragte. Jeder in der Klasse sagte, was ihm einfiel: plumpe, schlampige, klischeehafte, fade, locker-flockige, gepflegte, künstliche, kunstvolle, anschauliche, präzise, farbige, lebendige, vitale, platte, öde, derbe, trockene, nüchterne, nachlässige, poetische, lyrische, kernige, zugespitzte, geschliffene. Gesuchte, geschraubte, gespreizte, altertümliche, verschleierte, klare, direkte, treffsichere, knappe, bündige, weitschweifige, langatmige, launige, überladene, schwungvolle, schwülstige, eindringliche, eigenwillige, hochgestochene, geschäftsmäßige, bürokratische, temperamentvolle, schwindelerregende, blutleere, gezierte, kühne, würzige, witzige, doppelsinnige, vieldeutige, geheimnisvolle . . .

Eine Sprache kann Fortschritte machen, vernachlässigt werden, verwildern, stagnieren, zurückgehen, kurz vor dem Absterben sein, wieder belebt werden. Sie kann blühen, giftige Blüten und saftige Früchte tragen. Man kann auch einer Sprache Gewalt antun. Man kann Völker ihrer Sprache berauben. Und ihre Sprache sterben lassen, wie die toten Sprachen vieler untergegangener Völker. Und man kann sieben Sprachen sprechen und in sieben Sprachen schweigen. Ich dachte an all das und mehr und brütete weiter über meine Zukunft und die Vielfältigkeit der Sprache.

Während meiner journalistischen Fortbildung sah ich meine Grenzen deutlich, was ich kann und nicht kann aus unmittelbarer Nähe. Schließlich zwang mich die Armut meines Sprachinstruments, einen bestimmten Stil zu wählen, knappe und klare Sätze, die am Mikrophon leicht auszusprechen sind. Was beileibe nicht heißen soll, dass meine Sprache ihre Grenzen erreicht hat und ich mit meinen heutigen Kenntnissen zu frieden bin. Die Sprache ist nicht ein endgültiger Zustand, sondern ein unterbrochener Prozess. Solange man lebt, erfordert die Beherrschung einer Sprache, sie mühevoll zu lernen, zu vergessen und wieder mühevoll zu lernen. Es ist wie die Beherrschung eines Instruments. Es reicht nicht aus, dass man gut spielt, man muss täglich und bis zum Tode üben, wenn man seiner Sprache Kraft, Farbe und Glanz geben will.

Quelle: 5seitiges Typoskript im Nachlass von Diana Canetti. Dieser wurde nach Schließung des Frauen-Kultur-Archivs ins Rheinische Literaturarchiv des Heinrich-Heine-Instituts Düsseldorf transferiert.

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